Julia, 31, weiß seit März 2020, dass sie an Multipler Sklerose (MS) erkrankt ist. Sie arbeitet aktuell als Digital Learning Managerin und entwickelt digitale Lernformate. In ihrer Freizeit widmet sie sich ihrer Katze, ihren vielen Pflanzen, sie liest gern oder schaut Filme und geht zusammen mit ihrem Partner und Freunden zum Stand-up-Paddeln. Im Interview erzählt sie, wie die MS ihr Arbeitsleben beeinflusst.

MS, Fatigue und Krankschreibung: Von tauben FĂĽĂźen zur Diagnose

Hallo Julia, wie geht es Dir gerade? 

Soweit ganz gut, von meinen bisherigen Schüben sind mir in erster Linie Empfindungsstörungen in den Beinen geblieben, was aber nicht so schlimm ist. Ich spüre es halt nicht so, ob da Wasser drüber läuft, ob das warm oder kalt ist etc. Dafür merkt man auch beim Tätowieren weniger (lacht). Daneben istFatigue ein ernstes Thema für mich. Aber ich würde sagen, dass die Belastung überschaubar ist und ich meine Symptome ganz gut in den Griff bekomme – das Beinkribbeln, indem ich kühlende Textilien verwende, die Fatigue, indem ich mir ausreichend Ruhezeiten gönne und Aktivitäten anhand meiner vorhandenen Energie plane. 

Wie kam es denn zu Deiner Diagnose? 

Im Herbst 2019 hatte ich ein paar Tage nach dem Sport plötzlich taube Fußsohlen. Ich habe das zunächst nicht sonderlich ernst genommen. Als die Missempfindungen nach einiger Zeit aber nicht besser wurden, bin ich zum Hausarzt gegangen. Der hat mir dann eine Stimmgabel an die Füße gehalten, und ich habe kaum etwas davon gespürt. Ich sollte daher einen Neurologen aufsuchen, habe aber erst für Mitte März 2020 einen Termin bekommen. Den musste ich dann aber gar nicht mehr wahrnehmen. 

Was war passiert? 

Ich hatte Anfang März einen Schub, bei dem ich vom Bauchnabel abwärts auf der rechten Seite nahezu gelähmt war. Mein Bein hing an mir, wie ein Kloß, und ich kam zu Hause kaum noch die Treppen hoch. Ich wurde dann als Notfall in einer Klinik aufgenommen, und die diensthabende Ärztin wusste ziemlich schnell, was los ist. Ich konnte ja keine gerade Linie mehr laufen, bin wie betrunken hin und her geschwankt. Dann gab es noch die klassischen Untersuchungen, es wurde Nervenwasser entnommen, eine Kernspintomografie gemacht, motorische und sensorische Messungen und kognitive Tests durchgeführt. Ich konnte in diesem Moment nicht einmal mehr einfachste Rechenaufgaben lösen. Und dann stand die Diagnose. 

Was hat das mit Dir gemacht? 

Ich habe das zunächst gar nicht so realisiert, war weder besonders ängstlich noch besorgt. Die Ärzte haben mich zusätzlich beruhigt und gesagt, dass viele Betroffene mit einer MS-Therapie ein weitestgehend normales Leben führen können. 

Du bist nicht in ein Loch gefallen? 

Doch, aber erst später. Ich kam dann auf Reha und hatte anschließend noch gelegentlichen Kontakt mit anderen Betroffenen. Bei denen war alles fein, während ich weitere Schübe hatte und mehrmals die Medikamente wechseln musste. Da war ich echt an einem Tiefpunkt: Während mir die Ärzte gesagt hatten, dass man mit MS normal leben könnte und es den anderen gut ging, hatte ich einen Schub nach dem anderen. Lag das an mir? Hatte ich irgendwas falsch gemacht? Ich kam damals schwer ins Zweifeln. Erst als ich dann auf Instagram aktiv wurde und von anderen Verläufen erfuhr, kam ich aus diesem Loch wieder heraus. MS ist eben die Krankheit der 1.000 Gesichter. 

Du wurdest dann sogar MS-Influencerin! 

Ich begann damals, Instagram wie so eine Art Tagebuch zu nutzen, mir die Sachen, die mich bewegten, von der Seele zu schreiben. Und plötzlich kamen dann die Leute mit Fragen auf mich zu, erzählten mir ihre Geschichte, tauschten mit mir Tipps aus, und das Ganze wurde ein Selbstläufer.

„Kann man mit MS arbeiten?“ – Warum Julia Offenheit im Bewerbungsprozess so wichtig war

Wie ging es Dir denn in der Arbeit? 

Ich war bei meinem damaligen Arbeitgeber im E-Learning-Bereich tätig, mochte meine Arbeit sehr, hatte ein gutes Verhältnis zu meinen Kollegen und Vorgesetzten und gutes Feedback von den Kunden. Als ich dann ein knappes Vierteljahr nach der Diagnose wieder an den Arbeitsplatz kam, hatte ich zunächst auch viel Unterstützung. Ich konnte meine Arbeitszeit reduzieren, bekam einen höhenverstellbaren Schreibtisch usw. Aber dann kamen weitere Schübe, und ich bin eben öfter mal ausgefallen. Für meinen Arbeitgeber war das nicht mehr so leicht abzufedern, sodass man mir nahelegte, ins Marketing zu wechseln. 

Was Du nicht wolltest… 

Ich hatte zunächst die Hoffnung, dass ich da reinwachsen würde, das war aber nicht der Fall. Marketing ist nicht meine Welt, mir war das zu eintönig, und ich wollte zurück in meinen alten Aufgabenbereich. Ich wurde aber immer wieder vertröstet – angeblich, um mich zu schützen. Wir einigten uns schließlich darauf, dass ich weiterarbeite, bis ich was Neues gefunden habe. Das war nach zehn oder 15 Bewerbungen auch der Fall. 

Wie hast Du die Unternehmen ausgewählt, bei denen Du Dich bewerben wolltest? 

Ich habe mich beispielsweise darüber informiert, wie ein Unternehmen mit dem Thema Diversität umgeht. Wenn ein Unternehmen LGBTQ-freundlich eingestellt ist, dann gehe ich davon aus, dass es auch chronisch erkrankten Menschen gegenüber offen ist. Auch der Standort war mir wichtig, weil ich keine weite Anreise zum Büro haben will; wobei das auch davon abhängig ist, wie ein Unternehmen mit flexiblen Arbeitszeiten und dem Thema Anwesenheitspflicht im Büro umgeht. Mein jetziger Arbeitgeber sitzt ja auch nicht in Augsburg, aber dank der Möglichkeit, viel aus dem Home Office zu erledigen, lässt sich das gut mit meiner MS vereinbaren. 

Und wie bist Du im Rahmen der Bewerbung mit Deiner Erkrankung umgegangen? War das ein Thema in den Gesprächen? 

Diese Frage bekomme ich auch in der Community oft gestellt. Ich habe diesbezüglich auf mein Bauchgefühl gehört, und wenn ich mir vorstellen konnte, bei einem Unternehmen zu arbeiten, dann bin ich relativ offen gewesen. Ich habe beispielsweise schon in den schriftlichen Bewerbungen im Anschreiben erwähnt, dass ich aufgrund einer Schwerbehinderung nur 30 Stunden pro Woche arbeiten kann, selbst wenn eine Stelle für 40 Stunden ausgeschrieben war. Manche sagten dann von vornherein nein, bei anderen wurde ich trotzdem eingeladen. In virtuellen Gesprächen oder dann vor Ort kann man gegebenenfalls konkreter werden. Es löchert einen auch niemand mit unangenehmen Fragen, das dürfen die ja gar nicht. Daher ist man zum Glück sehr flexibel darin, was man kommuniziert und was nicht.

MS und stressiger Job? So findet Julia in ihrem neuen Traumjob UnterstĂĽtzung

Es hat dann ja auch geklappt und Du hast einen neuen Arbeitgeber gefunden. Wie ist es dort für Dich? 

Richtig, ich bin 2024 zu meinem aktuellen Arbeitgeber gegangen und arbeite wieder in meinem Traumjob im E-Learning-Bereich. Die Bedingungen hier kommen mir sehr entgegen. Da ist zum einen die Arbeitszeitflexibilität, ich kann anfangen, wann ich will, ich kann Pause machen, wann ich will (solange es natürlich die Arbeit nicht negativ beeinflusst!) und meine Arzttermine wahrnehmen. Und ich kann im Home-Office arbeiten, muss also nicht eine bestimmte Anzahl an Tagen im Büro erscheinen. Meine Chefin und ich, wir sprechen einmal die Woche miteinander, und sie erkundigt sich dann auch immer, wie es wir geht, ob ich mit der Arbeitslast zurechtkomme, ob ich irgendetwas brauche – wir sind komplett offen in der Kommunikation, und das hilft mir sehr. 

Inwiefern haben Kollegen und Vorgesetzte eigentlich Verständnis für Menschen mit MS? 

Das Problem ist, dass MS so unterschiedlich verläuft und sich dementsprechend sehr unterschiedlich auf den Arbeitsalltag auswirkt. Menschen ohne MS können sich daher oft nicht in die Situation Betroffener versetzen. Du sagst dann beispielsweise, dass Du heute echt fertig bist, und irgendjemand entgegnet, ja, er hätte heute auch schlecht geschlafen – ein Kommentar, den ich öfter zu hören bekommen habe. Aber will ich dann immer wieder klarstellen, dass das nicht vergleichbar ist? Manchmal ist mir das einfach zu anstrengend. Ein anderes Beispiel, wo es manchmal am Verständnis mangelt: Du sagst für eine Firmenfeier oder für eine Fortbildung zu, warst am selben Tag noch arbeiten und erscheinst zu dem Termin dann doch nicht. Es ist morgens eben nicht planbar, wie ich mich abends fühle. Da fehlt manchmal das Verständnis. Eine ehemalige Kollegin ließ einmal fallen, dass die jungen Leute heute ja nicht mehr so viel arbeiten wollen. 

In Deiner Situation reichlich unpassend. Was kann man da tun? 

Es ist tatsächlich eine große Frage, ob man da in die Diskussion geht oder nicht. In meinem Fall mache ich es unter anderem davon abhängig, ob ich mein Gegenüber als so reflektiert einschätze, dass sich eine Diskussion lohnt. Wenn es sich aber gut anfühlt, dann gehe ich mit Kolleginnen und Kollegen ins Gespräch. Ich biete ihnen an, mich zu fragen, wenn sie was wissen wollen; oder dass sie mir auf Instagram folgen können. Ich bin schon sehr offen, ohne meine Erkrankung im Alltag an die große Glocke zu hängen. 

Gab es in der Zeit seit Deiner Diagnose so etwas wie ein Aha-Erlebnis für Dich? 

Das kam mit dem neuen Arbeitgeber. Ich hatte in meiner alten Position das Gefühl, als Person nicht mehr so viel wert zu sein. Mit dem Wechsel wurde mir klar, dass ich immer noch die gleichen Kompetenzen habe, wie vorher, dass die MS mir da nichts weggenommen hat und ich nur ein anderes Arbeitsumfeld brauchte. Diese Erkenntnis war für mich sehr wichtig. 

Was würdest Du anderen Betroffenen, die im Berufsleben stehen oder kurz davor sind, gerne mitgeben? 

Ich würde vor allem raten: seid offen und teilt Euch mit. Steht ein für Eure Bedürfnisse und sagt dem Arbeitgeber, was Ihr braucht. Und glaubt an Euch, macht Euch nicht klein. Das ist leichter gesagt als getan, und die MS ist ja da. Aber sie bestimmt nur die Rahmenbedingungen und nicht, welche Kompetenzen man hat. 

Danke, Julia, für das tolle Gespräch und dass Du uns an Deinem Weg hast teilhaben lassen. 

Wenn auch Du über Deine Erlebnisse, Deine Erfahrungen, Deinen Umgang und allgemein Dein Leben mit MS sprechen möchtest, um anderen Betroffenen damit Mut zu machen, dann kontaktiere uns unbedingt, z. B. Facebook oder Instagram aus. Wir freuen uns auf Dich!

 

DE-NONNI-00964, Stand 09/2025