Die Diagnose Multiple Sklerose betrifft Körper und Geist, das ist vielen bewusst. Und doch wird ein Bereich häufig nicht ernst genug genommen: die geistige Leistungsfähigkeit. Dabei sind kognitive Einschränkungen kein Randthema, sondern betreffen einen Großteil aller Menschen mit MS. Sie können bereits sehr früh auftreten, oft unbemerkt und unabhängig von körperlichen Schüben. Trotzdem fließen sie bislang noch zu selten in die ärztliche Verlaufsbewertung ein. Höchste Zeit, das zu ändern.

Was bedeutet „Kognition“ überhaupt?

Kognitive Fähigkeiten sind geistige Prozesse, die wir für unseren Alltag brauchen. Dazu gehören unter anderem:

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Wenn eine oder mehrere dieser Fähigkeiten beeinträchtigt sind, spricht man von kognitiven Störungen. Bei MS kann das bedeuten, dass Betroffene plötzlich Dinge vergessen, sich schlechter konzentrieren können oder langsamer denken. Im Arbeitsalltag oder bei sozialen Interaktionen fällt das oft zuerst nur den Betroffenen selbst auf und wird dann lange Zeit als Stress oder Erschöpfung abgetan.

Zitat - Steffi, 34

„Ich muss wirklich sagen, ich war wie dumm am Anfang. Klar denken, richtig sehen, Auto fahren – nichts ging mehr.“ 

Kognitive Störungen bei MS – still, aber häufig

Bis zu 2/3 der Menschen mit MS erleben im Laufe ihrer Erkrankung kognitive Veränderungen. Besonders häufig betreffen diese zentrale Denk- und Gedächtnisfunktionen. Dazu zählen vor allem das Kurzzeitgedächtnis und Lernvermögen, sowie Aufmerksamkeit und kognitive Flexibilität. 

Dabei treten diese Symptome nicht nur bei einem fortgeschrittenen Verlauf auf. Im Gegenteil: Kognitive Beeinträchtigungen können bereits in den frühen Krankheitsjahren auftreten und das oft ohne begleitende Schübe oder spürbare körperliche Einschränkungen. Mediziner sprechen in diesem Fall von: „Cognitive PIRA“.

Gerade weil „cognitive PIRA“ „leise“ verläuft, wird es oft nur spät erkannt. Umso wichtiger ist es, frühzeitig aufmerksam zu sein und gezielt zu testen.

Was Veränderungen im Gehirn über kognitive Störungen bei MS verraten

Moderne Bildgebung zeigt, dass kognitive Einschränkungen bei MS nicht „nur im Kopf“ sind, sondern sich auch in strukturellen Veränderungen des Gehirns widerspiegeln. Zu den wichtigsten zählen der Verlust von Hirnsubstanz (Hirnatrophie) sowie Schäden (Läsionen) in der weißen Substanz – dem „Verbindungsnetzwerk“ des Gehirns – und der grauen Substanz im Kortex, also der äußeren Schicht des Gehirns, in der viele Denkprozesse ablaufen. 

Bei gesunden Menschen ist ein fortschreitender Rückgang des Hirnvolumens ein normaler Teil des Alterns: Im Schnitt schrumpft das Gehirnvolumen dabei um etwa 0,1 bis 0,3 Prozent pro Jahr. Bei MS-Patienten hingegen verläuft dieser Prozess deutlich schneller. Ohne Behandlung kann der jährliche Verlust bei rund 1 Prozent liegen, ein deutliches Zeichen für krankhafte Veränderungen. 

Solche messbaren Hirnveränderungen gelten inzwischen als sogenannte Surrogatmarker. Sie liefern indirekte Hinweise darauf, wie stark die kognitiven Funktionen bereits beeinträchtigt sein könnten, auch dann, wenn im Alltag noch keine deutlichen Symptome auftreten. Denn erste Veränderungen lassen sich oft bereits im MRT nachweisen, bevor sie spürbar werden.

Woran erkennst Du kognitive Verluste?

Besonders tückisch ist, dass der Verlust von Gehirngewebe und kognitive Beeinträchtigungen häufig lange Zeit nicht bemerkt werden. Dies liegt zum einen daran, dass das Gehirn durch die sogenannte neurologische Reserve in der Lage ist, diese Schäden auszugleichen – zum anderen sind mögliche Symptome sehr vielfältig und auch nicht immer gleich stark ausgeprägt. 

Ein typisches Anzeichen ist, dass es für Betroffene zunehmend schwierig wird, bestimmte Sinneseindrücke zu verarbeiten. Fällt es Dir zum Beispiel immer häufiger schwer, Dich auf eine Sache zu konzentrieren, schweifst Du gedanklich vermehrt ab oder hast Du Probleme, im Alltag und Beruf mehrere Aufgaben gleichzeitig zu lösen, obwohl das bislang immer funktioniert hat? All das können Anzeichen für Kognitionsverluste sein. Außerdem kann es sein, dass Du Probleme bekommst, Deine Gedanken zu ordnen, die richtigen Worte zu finden oder dass es Dir zunehmend schwerfällt, Dir Dinge zu merken oder zu planen. 

Dein Neurologe kann kognitive Verluste bei MS mit standardisierten Testverfahren erkennen. Einer der wichtigsten ist der Symbol Digit Modalities Test (SDMT), ein kurzer, ca. fünfminütiger Test, der prüft, wie schnell Informationen verarbeitet und umgesetzt werden. 

Weitere Testverfahren wie BICAMS (Brief International Cognitive Assessment for Multiple Sclerosis) oder MACFIMS (Minimal Assessment of Cognitive Function in Multiple Sclerosis) erfassen zusätzlich Gedächtnisleistung, visuelle Aufmerksamkeit und Exekutivfunktionen. Wichtig ist, dass diese Tests keine Diagnose ersetzen, sondern gemeinsam mit weiteren MS-Kontrolluntersuchungen eine wertvolle Basis für die Verlaufskontrolle und Therapieplanung bilden.

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Mehr als Vergesslichkeit bei MS: Warum es wichtig ist, kognitive Störungen ernst zu nehmen

Auch wenn kognitive Veränderungen weniger sichtbar sind als körperliche Einschränkungen, wirken sie sich oft direkt auf die Lebensqualität aus. Berufliche Belastung, familiäre Rollen oder das eigene Selbstbewusstsein können darunter leiden. Studien zeigen: Menschen mit kognitiven Einschränkungen sind häufiger frühverrentet und erleben eine stärkere emotionale Belastung. Zudem deuten wissenschaftliche Erkenntnisse darauf hin, dass frühe kognitive Defizite ein Hinweis auf eine spätere Krankheitsprogression sein können. 

Was kannst Du tun? 

  • Sprich das Thema aktiv an, auch wenn es schwerfällt
  • Frag Deinen Arzt, ob Ihr Deine kognitiven Fähigkeiten regelmäßig, am besten jährlich, ĂĽberprĂĽfen könnt
  • FĂĽhre ein Kognitionstagebuch, um Veränderungen besser einschätzen zu können
  • Nutze kognitives Training oder Apps, die speziell auf MS abgestimmt sind
  • Achte auf Schlaf, Ernährung und Stressmanagement, sie beeinflussen die geistige Leistungsfähigkeit ebenfalls 

Noch mehr Infos und Tipps rund um kognitive Symptome findest Du in unserer Broschüre „Unsichtbare Symptome“.

Fazit: Nur wer misst, kann steuern

Kognitive Symptome sind ein wesentlicher, oft unterschätzter Teil der MS und können den Verlauf beeinflussen, lange bevor andere Zeichen auftreten. Der beste Schutz vor dem Voranschreiten kognitiver Beeinträchtigungen ist der frühe Einsatz einer passenden Therapie: Sie kann die Hirnatrophie verlangsamen und Deine kognitiven Fähigkeiten erhalten. 

Es ist also entscheidend, auf mögliche Warnzeichen zu achten: Regelmäßige Tests, wie der SDMT, helfen dabei, Veränderungen früh zu erkennen und gemeinsam mit Deinem Arzt gezielt zu handeln. Eventuell muss Deine Therapie angepasst und durch eine wirksamere ersetzt werden. So behältst Du die Kontrolle, auch über Deine geistige Stärke. 

Du möchtest mehr über kognitive Symptome wissen oder hast selbst Erfahrungen damit gemacht? Teile Deine Fragen und Gedanken mit uns auf Facebook oder Instagram aus. Wir freuen uns von Dir zu hören! 

 

DE-NONNI-00967, Stand 09/2025