Ăśber Regine Mispelkamp: Leistungssportlerin mit MS

Regine Mispelkamp (53) ist eine erfahrene Pferdewirtschaftsmeisterin im Bereich Reiten und eine diplomierte Trainerin des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB). Bereits im Alter von sieben Jahren begann sie mit dem Reitsport und hat seitdem eine beeindruckende Karriere aufgebaut.

Sie kann auf zahlreiche Erfolge in der Para-Dressur zurückblicken, darunter der Titel der Deutschen Meisterin in den Jahren 2018, 2019, 2022 und 2023 sowie eine Bronzemedaille im Jahr 2024. Bei den Paralympics in Tokio 2021 gewann sie eine Bronzemedaille. Ihre herausragenden Leistungen setzten sich fort bei der Weltmeisterschaft 2018, wo sie ebenfalls Bronze im Team und einzeln errang, und bei der Europameisterschaft 2023, wo sie mit dem deutschen Team eine Silbermedaille und im Einzel eine Bronzemedaille in Grade V (Anmerkung der Redaktion: In dieser Kategorie treten Reiterinnen und Reiter mit Einschränkungen in einer oder zwei Gliedmaßen an.) gewann.

MS: Die Diagnose und der lange Weg zur Akzeptanz

Wann traten bei Dir die ersten Symptome auf und wie sahen diese aus?

Das ist schon mehrere Jahre her, aber ich weiß noch, dass ich in der Zeit stark erkältet war. Das war ungewöhnlich für mich. Bald danach habe ich die ersten MS-typischen Symptome bemerkt. Meine Beine haben sich angefühlt, als würde ich in mit bis zum Knie mit Wasser gefüllten Gummistiefeln laufen. Zusätzlich haben sie gekribbelt und sich eiskalt angefühlt. Das hat sich auf meinen Gang ausgewirkt, ich bin quasi wie eine Ente gewatschelt, weil ich meine Füße nicht richtig koordinieren konnte.

Ich habe schon immer mit Bandscheibenproblemen zu kämpfen, daher dachte ich damals, dass diese Störungen damit zusammenhängen. Ich bin zu meinem Orthopäden gegangen, der mich gleich zum MRT geschickt hat. Im Zuge dessen wurde die MS diagnostiziert.

Nicht lange danach gingen die ersten Behandlungen los. Parallel habe ich noch weitere Untersuchungen zur Festigung der Diagnose durchlaufen und am Ende mehrere Kortisonbehandlungen bekommen. Mit der Basistherapie ging es bei mir ungefähr zur gleichen Zeit los, als ich mich mit der Diagnose abgefunden hatte. Die Akzeptanz kam deutlich später.

Wie bist Du mit der Diagnose umgegangen und was hat sich seitdem verändert?

An dieses Gespräch erinnere ich mich eher ungern. Mir wurde die Diagnose eher platt um die Ohren gehauen nach dem Motto: „Sie haben keinen Bandscheibenvorfall, sondern was viel Schlimmeres. Sie haben MS.“ Auf sowas ist glaube ich niemand vorbereitet. Ich stand da wie vom Blitz getroffen und war völlig verängstigt. Mir gingen so viele Bilder durch den Kopf und vor allem die Angst davor, im Rollstuhl zu landen.

Ich habe mich in dieser Zeit sehr zurückgezogen und mit der Diagnose gehadert. Ein Wendepunkt war es für mich, als ich mit meiner Trainerin darüber gesprochen, mit dem Para-Sport begonnen und die MS öffentlich gemacht habe.

Wie hat sich Deine MS im Laufe der Zeit verändert?

Einige Zeit nach der Diagnose kamen noch weitere Symptome wie Sensibilitätsstörungen dazu; wenn ich mir mit den Händen durch die Haare gefahren bin, konnte ich beispielsweise gar nichts mehr spüren. Ich konnte mir sogar in den Arm kneifen und habe es nicht einmal gemerkt.

Meine Therapie musste ich deswegen auch mehrmals wechseln. Einige sind mir nicht gut bekommen, bei anderen hat die Verabreichungsform nicht zu mir gepasst – ich wollte keine Spritzentherapie. Mittlerweile sind die Symptome deutlich zurückgegangen.

Wie hat sich Deine Perspektive auf das Leben verändert, seit Du mit MS diagnostiziert wurdest?

Es hat eine Weile gedauert, bis ich überhaupt wieder eine Perspektive hatte. Doch ich habe erkannt: Ich habe MS, die MS wird bleiben, aber ich darf weiterleben. Ich schöpfe viel Kraft aus meinem Sport und den Tieren, die mir so viel geben und dadurch habe ich auch meine Herzlichkeit und meine Lebensenergie wiedergefunden. Ich bin glücklich über die Erlebnisse und Erfahrungen, die der Sport mir ermöglicht. Ich schaue immer nach vorne und mache weiter.

Tipps und Erfahrungen im Leistungssport mit MS

Hast Du besondere Techniken oder Strategien entwickelt, um mit den Symptomen bzw. Deiner MS während des Trainings und der Wettkämpfe umzugehen?

Eine Stärke von mir ist es, dass ich mich auf Dinge fokussieren kann – gerade an Wettkampftagen. Wir haben im Dressursport das sogenannte „Vorviereck“, in dem man sich bis kurz vor dem Start aufhält – dort konzentriere ich mich nur auf mich und mein Pferd, das ist meine individuelle Vorbereitung.

Danach bin ich allerdings auch oft ausgelaugt, dann ziehe ich mich zurĂĽck, und brauche viel Ruhe. Ich lasse mir nicht gern von anderen helfen, sondern versuche, allein zurechtzukommen.

Was mir außerdem hilft: Yoga und eine gesunde, ausgewogene, Ernährung, reich an Antioxidantien. Mein Ernährungsritual ist Naturjoghurt mit Honig, Nussmüsli und Obst, zum Beispiel Heidelbeeren.

Wie hat Deine Teilnahme an sportlichen Wettkämpfen wie den Paralympics Deine Einstellung zur MS und die Wahrnehmung Deiner eigenen Stärken beeinflusst?

Ich habe erkannt, dass ich schnell handlungsfähig bin, wenn etwas nicht genau nach Plan läuft. Ich versuche immer, mich im entscheidenden Moment auf meine Stärken zu konzentrieren und meine Nervosität auszuschalten: Ich weiß, was ich kann und was mein Pferd kann.

Gleichzeitig stehe ich den anderen Teilnehmern der Paralympischen Spiele mit großem Respekt gegenüber. Zu sehen, zu welchen Leistungen Menschen mit verschiedenen Einschränkungen in der Lage sind, hat mich sehr geerdet.

Gibt es spezifische Unterstützung, die Du von Deinem Team oder Deinen Trainern erhalten hast, um mit den Anforderungen des Sports und der MS bestmöglich umzugehen?

Ich habe tolle Unterstützung durch meine Physiotherapeutin, meine Ärztin und vor allem meine Trainerin. Wir arbeiten schon lange zusammen und sie behandelt mich jetzt nicht anders als vor der Diagnose. Wir verlieren uns nicht in den Schwächen, sondern trainieren immer die Stärken.

Hat Deine Erkrankung im Verlauf der Zeit Deinen Umgang mit Rückschlägen und Triumphen im Sport beeinflusst?

Das denke ich schon – und das liegt vor allem daran, dass ich selbst mich verändert habe. Bei Rückschlägen gehe ich immer auf Ursachensuche. Mir ist es schon passiert, dass durch eine krankheitsbedingt veränderte Körperhaltung und Atmung mein Pferd von mir ein falsches Signal erhalten hat und angaloppiert ist, statt zu traben. In diesen Fällen suche ich den Fehler nicht beim Pferd, sondern analysiere mein eigenes Verhalten und versuche, für das nächste Mal daraus zu lernen. Ich bin glücklich, dass ich meine Ziele weiterverfolgen kann und dabei können mich kleinere Rückschläge nicht aufhalten.

Reitsport mit MS: Vorurteile abbauen durch sportliche Erfolge

Du bist auch als Trainerin im Reitsport aktiv. Stößt Du hierbei manchmal auf Hindernisse oder Vorurteile aufgrund Deiner MS-Erkrankung?

Nachdem ich meine Diagnose öffentlich gemacht habe, gab es schon Menschen, die mir unterstellt haben, ich würde mir die Teilnahme am Parasport dadurch erschleichen. Man muss ein dickes Fell haben, um mit solchen Anschuldigungen umzugehen.

Meine Kunden hatten teilweise Sorge, dass ich meinen Beruf nicht mehr wie gewohnt ausführen kann. Dazu kamen abwertende Vorurteile, beispielsweise von Menschen die grundsätzlich kein Pferd von einer Para-Reiterin kaufen wollten. In einem anderen Fall haben sich Teilnehmer aus dem Regelsport bei einem Inklusionsturnier massiv darüber beschwert, dass die Reiter mit Einschränkungen kürzere Wege zu den Ställen etc. hatten.

Doch gerade diese Erlebnisse motivieren mich umso mehr, den Sport noch bekannter zu machen. Ich würde mir wünschen, dass die Öffentlichkeit viel mehr über das enorme Leistungsniveau erfährt, das dort vorherrscht. Ich möchte dazu beitragen, Brücken zu bauen, Vorurteile aus der Welt zu schaffen und den Weg für ein respektvolles Miteinander zu ebnen.

Inwiefern hat der Sport Dir geholfen, mit den emotionalen und mentalen Herausforderungen umzugehen, die mit der MS einhergehen?

Durch den Sport, und vor allem das Zusammenspiel mit dem Pferd, habe ich an Selbstsicherheit, Stärke und auch an Resilienz gewonnen. Mein Sport motiviert mich, meine Grenzen immer weiter auszuloten, und auch an den Tagen aufzustehen, an denen ich lieber im Bett liegen bleiben würde.

Was hilft Dir sonst beim Umgang mit Deiner MS?

Ich habe erkannt, dass es meiner MS nicht guttut, wenn ich mich unter Druck setze, deswegen versuche ich Stress zu vermeiden und mich mit Menschen zu umgeben, mit denen ich mich wohlfĂĽhle. Ich habe durch die MS auch gelernt, die kleinen Dinge im Leben zu genieĂźen. Das kann ein Latte Macchiato sein, ein Eis oder der Duft nach frisch geschnittenem Holz im Wald.

Welchen Herausforderungen musst Du Dich beim Training und der Vorbereitung auf die Paralympics aufgrund Deiner MS stellen?

Die Vorbereitung und das Training sind für mich nicht anders als sonst auch. Ich habe eine Mitarbeiterin, die mich begleitet – wir sind ein eingespieltes Team und sie nimmt mir auch viel ab. Was mir manchmal schwer fällt: Ich bin ein sehr gut organisierter Mensch. Mitunter hat man bei den Wettbewerben aber mit Personen zu tun, die nicht so klar strukturiert sind. Dann muss ich mir vor Augen führen: Es sind meine Paralympics, ich tue das für mich. Alles, was darum herum passiert, darf ich dann nicht zu nah an mich heranlassen.

Regine Mispelkamp: „Sei mutig, verfolge Deine Ziele – es lohnt sich!“

Deine Teilnahme bei den Paralympics macht anderen MS-Betroffenen Mut und gibt ihnen Inspiration, mit der MS positiv umzugehen. Wie hast Du es geschafft, Deine Power ĂĽber die Jahre im Leistungssport zu erhalten?

An erster Stelle stehen klar die Pferde, die mir so viel bedeuten und mir so viel Kraft geben. Und dann ist es fĂĽr mich einfach ein Geschenk, an Ereignissen wie den Paralympics teilnehmen zu dĂĽrfen. Der Gedanke, dass ich das geschafft habe, als eine von vier Deutschen, motiviert mich jeden Tag aufs Neue. Ich durfte Tokio erleben, ich freue mich auf Paris und so geht mein Plan weiter bis Los Angeles (Anm. d. Red.: Austragungsort der Olympischen und Paralympischen Sommerspiele 2028).

Welche Botschaft möchtest Du anderen MS-Patienten vermitteln, die sich vielleicht nicht sicher sind, ob sie an sportlichen Wettkämpfen teilnehmen oder ob sie sich sportlich betätigen können oder sollten?

Ich wünsche jedem, der eine MS-Diagnose erhält, dass er Menschen um sich hat, die ihn auffangen. Gleichzeitig sollte man sich immer auf sich selbst verlassen können. Frage Dich, was Dich glücklich macht und die Krankheit in den Hintergrund stellt. Denn: Ja, wir müssen die MS annehmen, aber das Leben geht weiter und es ist schön!

In Hinblick auf den Sport kann ich jedem nur raten, über seinen Schatten zu springen. Sei mutig, verfolge Deine Ziele – es lohnt sich!

Danke, Regine, dass Du ĂĽber Deinen Weg als im Reitsport mit MS gesprochen hast!

Wenn auch Du über Deine Erlebnisse, Deine Erfahrungen, Deinen Umgang und allgemein Dein Leben mit MS sprechen möchtest, um anderen Betroffenen damit Mut zu machen, dann kontaktiere uns unbedingt, z. B. über Facebook und Instagram. Wir freuen uns auf Dich.

DE-NONNI-00791 08/2024