Einblicke vom größten deutschen Neurologenkongress und Neuigkeiten zur MS

Der Jahreskongress der DGN (Deutsche Gesellschaft für Neurologie) ist das zentrale Treffen führender Neurologie-Experten. In diesem Rahmen werden jedes Jahr die neuesten Forschungsergebnisse und medizinischen Entwicklungen präsentiert und diskutiert – auch zur MS. Doch nicht nur für Ärzte, sondern auch für MS-Betroffene ist der Kongress von großer Bedeutung, denn dort werden wegweisende Studiendaten aktuelle Fortschritte rund um das Verständnis, die Diagnose und die Therapie der MS intensiv beleuchtet. Das Ziel: Die Versorgung von MS-Patienten immer weiter zu verbessern.

Was gibt es also Neues in den Expertenkreisen? Dr. Birte Elias-Hamp, Fachärztin für Neurologie aus Hamburg, war beim DGN-Kongress 2024 vor Ort und stellt hier ihre Highlight-Themen zur MS vor.

DGN-Kongress 2024: Der MS-Pathophysiologie auf der Spur

Ein wichtiger Forschungsschwerpunkt liegt derzeit auf den Grundlagen der bis heute noch nicht vollständig verstanden Pathophysiologie der MS, also der Entstehung und Entwicklung der Krankheit. Hierzu wurden auf dem Kongress unter anderem neue Erkenntnisse hinsichtlich des Lernprozesses von Immunzellen im Thymus berichtet. Zudem wurde eine bestimmte lymphatische Transportart von Immunzellen im Gehirn vorgestellt. Diese könnte einen Einfluss darauf haben, wie das Immunsystem auf MS reagiert.

Auch der Signalweg der B-Zell-Aktivierung ist Gegenstand der aktuellen Forschung – ebenso wie die verschiedenen Mikroglia-Zellen (s. Infokasten). Diese Zellen übernehmen Immunfunktionen im Gehirn und unterscheiden sich neuen Erkenntnissen zufolge nicht nur in ihrer Funktion, sondern auch in ihrer Herkunft. Darüber hinaus entdeckten Forscher, wie Veränderungen in der Genaktivität von Astrozyten, die das Nervensystem unterstützen, deren Gedächtnis beeinflussen können.

All diese Erkenntnisse tragen dazu bei, das Verständnis von MS zu vertiefen und können dadurch den Weg zur Entwicklung neuer Behandlungsmöglichkeiten ebnen.

MS-Forschung: Mikroglia-Zellen und ihre Doppelrolle bei MS

Mikroglia-Zellen sind Immunzellen im Gehirn und Rückenmark. Ihre Aufgabe ist es, das Nervensystem zu schützen, indem sie etwa schädliche Stoffe oder Krankheitserreger entfernen und Schäden reparieren.

Bei MS spielen sie eine komplexe Doppelrolle: Einerseits helfen sie, Entzündungen zu bekämpfen und Gewebe zu schützen. Andererseits können sie bei Fehlregulationen selbst zur Schädigung der Nervenhüllen und damit zum Fortschreiten der MS beitragen. Dies macht Mikroglia zu einem wichtigen Forschungsfokus bei MS.

Weitere Neuigkeiten zur MS: Zusammenhang mit psychiatrischen Diagnosen

Bei der MS-Diagnose spielen die McDonald-Kriterien eine Schlüsselrolle. Diese finden seit 2001 Anwendung und werden seither regelmäßig überprüft und dem aktuellen Stand der Wissenschaft angepasst. Heute spielen dabei neben dem Befund von Läsionen in der Magnetresonanztomographie (MRT) auch der Nachweis von sogenannten oligoklonalen Banden (OKB) im Nervenwasser (Liquor) eine entscheidende Rolle. Die stetige Weiterentwicklung der McDonald-Kriterien erlaubt also immer gezieltere Diagnosen – auch perspektivisch. Auf dem ECTRIMS-Kongress im September 2024 wurde die neueste Überarbeitung vorgestellt. Erweiterte Kriterien können nun zu einer früheren Diagnose beitragen – eine wesentliche Änderung: Auch ein radiologisch isoliertes Syndrom (RIS) kann zusammen mit anderen vorhandenen Biomarken damit für eine MS-Diagnose ausreichend sein. Ein klinischer Schub wird dann nicht mehr benötigt, um die MS diagnostizieren zu können.

Anhand von Fallbeispielen mit komplexer Diagnostik wurde in diesem Zusammenhang auf dem DGN-Kongress 2024 auch die Frage diskutiert, ob es „psychiatrische Schübe“ bei MS gibt. Fest steht: Der Anteil psychiatrischer Begleiterkrankungen bei MS ist mit 60 % sehr hoch – am häufigsten kommen bei MS-Patienten Depressionen, Angsterkrankungen und bipolare Störungen vor. Diese Krankheiten haben dabei nicht nur einen unmittelbaren Einfluss auf den MS-Verlauf, sondern auch auf die Lebensqualität und Adhärenz bei der Therapie. Eine Herausforderung bei der Diagnose von Depressionen stellt die Abgrenzung zur Fatigue dar, einer häufigen Begleiterscheinung von MS, die zum Teil mit ähnlichen Symptomen einhergeht. Dennoch geht man von einer hohen Dunkelziffer nicht adäquat behandelter Depressionen bei MS-Betroffenen aus. was den großen Handlungsbedarf in diesem Bereich unterstreicht.

Auffällig ist dabei: Bei der MS ist der Anteil psychiatrischer Erkrankungen deutlich höher als bei anderen Erkrankungen. Eine bessere interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Psychiatrie und Neurologie ist entscheidend, um die zugrundeliegenden Zusammenhänge genauer aufzuschlüsseln. Eine aktuelle Studie an vier deutschen Standorten erforscht derzeit die Häufigkeit neurologischer Erkrankungen bei psychiatrischen Patienten – unter anderem mit dem Ziel, die Versorgung von Patienten mit neuropsychiatrischen Erkrankungen zu verbessern.

Auf dem Weg zur digitalen neurologischen Praxis

Wie digital ist die Neurologie? Auch diese Frage wurde auf dem DGN-Kongress umfassend diskutiert. Digitale Tools und KI-basierte Anwendungen könnten für Neurologen eine Erleichterung im Praxisalltag darstellen und ihnen mehr Zeit für Patientengespräche ermöglichen. Dazu müsste allerdings eine reibungslose Umsetzung im Alltag ohne Mehrkosten in jeglicher Hinsicht erfolgen können. Und auch die Patienten selbst könnten profitieren: Stellen sie ihren Behandlern vorab kontinuierlich gesammelte Langzeitdaten zur Verfügung, könnten gemeinsam fundiertere Therapieentscheidungen unter Einbeziehung dieser Daten getroffen werden.

Als Beispiel wurde eine – mittlerweile leider nicht mehr verfügbare – digitale Gesundheitsanwendung (DiGA) aus dem Bereich MS vorgestellt, in der Selbsteinschätzungen der Patienten zu ihrem Krankheitsverlauf (z. B. Fatigue, Lebensqualität, Spastiken, …) durch objektive Parameter ergänzt werden konnten (z. B. standardisierte Tests zu Feinmotorik, Gleichgewicht oder Kognition). Durch die Erfassung solcher Daten entsteht ein aussagekräftiges und langfristiges Gesamtbild, in dem Veränderungen bereits frühzeitig sichtbar werden. Basierend darauf kann der Arzt auch erkennen, ob eine Anpassung der Therapie sinnvoll oder notwendig sein könnte. Zudem können die Informationen einen wertvollen Beitrag zur Versorgungsforschung leisten.

Trotz der klar erkennbaren Vorteile für alle Beteiligten gibt es bis heute zahlreiche Hindernisse auf dem Weg zu einem flächendeckenden Einsatz digitaler Tools. Die Entwicklung der Apps ist kosten- und zeitintensiv, insbesondere, wenn eine Listung als – von den Krankenkassen erstattungsfähige – DiGA vorgesehen ist. Um die Nutzung von Apps und anderen Anwendungen in der Neurologie stärker zu fördern, könnten politische Anreize, finanzielle Unterstützung und der Fokus auf Produkte mit einem klaren Nutzen für Patienten und Behandler zielführend sein.

MS und digitale Helfer: Den Alltag besser gestalten

Digitale Tools können MS-Patienten nicht nur bei der Therapie unterstützen, sondern auch ihren Alltag erleichtern. Entdecke hier, wie Apps zur Symptomüberwachung, Fitness und Lebensqualität beitragen und Dir helfen können, Deinen MS-Alltag besser zu meistern.

MS und Wechseljahre – Einfluss der hormonellen Veränderungen

Ein weiteres Fokusthema zur MS auf dem DGN-Kongress war der Einfluss hormoneller Veränderungen während der Wechseljahre auf die MS. Die Lebensphase der Wechseljahre stellt für viele Frauen mit MS eine besondere Herausforderung dar: Unter anderem können sich durch wechseljahrestypische Hitzewallungen bekannte MS-Symptome verstärken – ein Einfluss der Körpertemperatur auf die MS wird auch als Uhthoff-Phänomen bezeichnet. Außerdem gibt es Symptome, die sowohl durch die MS als auch durch die Wechseljahre bedingt sein können. Für Patientinnen und Ärzte kann es dann schwierig sein, zwischen einer Verstärkung der Symptome durch die hormonelle Veränderung und einem tatsächlichen Fortschreiten der MS zu unterscheiden.

Zu möglichen Begleiterscheinungen der Wechseljahre zählen kognitive Beeinträchtigungen („foggy brain“), Depressionen, Schlafstörungen, Fatigue, sexuelle Störungen sowie ein erhöhtes Risiko für Osteoporose oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Die meisten dieser Symptome können MS-Beschwerden ähneln, diese verstärken oder überdecken. Der Einfluss der Wechseljahre kann demnach auch den Grad der Behinderung (EDSS-Score) verfälschen, der häufig genutzt wird, um das Fortschreiten der MS zu bestimmen, allerdings nur auf MS-bedingten Symptomen basieren soll.

Was bedeutet das nun für die Therapie von MS-Betroffenen während der Wechseljahre? Grundsätzlich sollten konkrete Symptome oder Beschwerden immer gezielt symptomatisch behandelt werden – auch dann, wenn die genaue Ursache dafür nicht bekannt ist. Zudem können neuropsychologische Untersuchungen, kognitive Therapien sowie eine Krebs- und Osteoporosevorsorge sinnvoll sein. Auch wenn bislang nicht vieles über Hormonersatztherapien bekannt ist: Auch bei MS können diese Hormontherapien in der Regel eingesetzt werden. Nicht zuletzt sind auch während der Wechseljahren die MS-Verlaufskontrollen beim Neurologen wichtig, um eine mögliche Krankheitsaktivität auch in dieser Lebensphase nicht zu übersehen.

Aktuelle MS-Forschung, Digitalisierung, Wechseljahre oder Begleiterkrankungen – welches Highlight vom DGN-Kongress 2024 findest Du am spannendsten? Wozu würdest Du gern mehr erfahren? Schreib es uns gerne auf Facebook oder Instagram.

DE-NONNI-00830, Stand 11/2024