Du willst Dich genauer ĂĽber den Aufbau und die Funktion der Blut-Hirn-Schranke informieren? Dieser Artikel bietet Dir eine detaillierte Ăśbersicht.
RAW, PIRA und MS: Wie MS-Verlaufsformen sich auf die Therapie auswirken können
Als Barriere des zentralen Nervensystems (ZNS) bewahrt die Blut-Hirn-Schranke (BHS) das Gehirn vor schädlichen Einflüssen, kann aber auch verhindern, dass einige Medikamente ins Gehirn gelangen.
Aus diesem Grund konzentriert sich die Wirkung der meisten derzeit verfĂĽgbaren MS-Therapien darauf, das Immunsystem und dessen Eindringen in das ZNS zu beeinflussen. Entweder durch:
- Immunmodulation, die darauf abzielt, die Immunantwort des Körpers gezielt umzuprogrammieren, oder
- Immunsuppression, bei der die Aktivität der Immunzellen unterdrückt wird, um unerwünschte Reaktionen zu verhindern.
Beide Ansätze sind auf eine langfristige Behandlung ausgelegt und gehören zur verlaufsmodifizierenden Therapieform. Ihr gemeinsames Ziel ist es, die Entstehung von Entzündungen im Gehirn zu verhindern oder zu verringern, indem sie beispielsweise die Anzahl der fehlgeleiteten Immunzellen in der Peripherie, d. h. außerhalb des ZNS, reduzieren.
Erfahrungen in der MS-Behandlung haben gezeigt, dass diese beiden Therapieansätze bei manchen Patienten in späteren Erkrankungsphasen nicht mehr die volle Wirkung entfalten können. Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass in den früheren Phasen mit ausgeprägterer Schubaktivität die Funktion der Blut-Hirn-Schranke beeinträchtigt ist. Dadurch können nicht nur fehlgeleitete Immunzellen in das Gehirn gelangen, sondern auch Wirkstoffe von Medikamenten, die eigentlich die BHS nicht überwinden können. Sie können dadurch direkt im ZNS wirksam sein. In späteren, sogenannten progredienten Stadien ohne Schubaktivität finden die Entzündungen im Gehirn hingegen hinter einer intakten BHS statt. Diese veränderte Situation stellt eine besondere Herausforderung dar, da dann auch die meisten MS-Medikamente den Entzündungsort im ZNS nicht erreichen können. Derzeit gibt es nur wenige für MS zugelassene Wirkstoffe, die dazu in der Lage sind, die BHS zu passieren.
In den späteren Stadien der MS, insbesondere wenn keine akuten Schübe mehr auftreten, sprechen wir von PIRA (Progression Independent of Relapse Activity, dt.: schubunabhängige Progression). Diese Phase ist durch eine schleichende Verschlechterung der Krankheit gekennzeichnet, die unabhängig von akuten Schüben fortschreitet. PIRA spielt eine Rolle beim s Verständnis der Krankheitsdynamik.
Im Gegensatz dazu steht RAW (Relapse-Associated Worsening, dt.: schubabhängige Verschlechterung). RAW beschreibt die allmähliche Zunahme von Beeinträchtigungen, die auf unvollständige Genesung von Schüben zurückzuführen ist. Diese Form der Verschlechterung tritt bei schubförmigen Verlaufsformen der Multiplen Sklerose auf und ist ein wichtiger Faktor für langfristige Beeinträchtigungen. RAW hilft dabei, die Krankheitsaktivität und die Effektivität von Therapien zu bewerten.
Anforderungen an die MS-Therapie - Gegenwart und Zukunft
Die Auswahl der geeigneten MS-Therapie hängt von der Verlaufsform der Erkrankung ab. Angesichts der Vielzahl an verfügbaren MS-Therapieoptionen sind jedoch auch andere Faktoren von Bedeutung.
Die Auswahl einer passenden MS-Therapie ist für jeden Patienten ein Prozess, den er oder sie in enger Zusammenarbeit mit dem betreuenden Arzt durchläuft. Eine Unterstützung für solche Therapiegespräche bieten z. B. unsere Therapiecheckliste und die Artikel zum Therapiewechsel.
Aber welche Ansprüche stellen Ärzte und Patienten an eine für sie passende Therapie? Sicherheit, Art und Häufigkeit der Verabreichung sowie Wirksamkeit sind bei der Auswahl der MS-Therapie entscheidende Kriterien.
In unserem Experteninterview haben wir mit Dr. Klaus Gehring über das Thema Therapieziele gesprochen. Seine Antwort: „Im besten Fall sollte eine MS-Therapie alles abdecken: Sie sollte für den Patienten nicht nur verträglich, sondern auch sicher und hochwirksam sein.“ Darüber hinaus sollte eine Therapie, aus Arztsicht, auch den Begleiterkrankungen und Lebensumständen des jeweiligen Patienten gerecht werden. Dazu muss jeder Patient „individuell betrachtet werden; Lebensplanung, persönliche Besonderheiten und der Krankheitsverlauf müssen in die Entscheidung mit einbezogen werden.“ All das in Abstimmung mit den Wünschen und Bedürfnissen des Patienten, und zwar auf einen möglichst langen Zeitraum ausgerichtet.
Und wie sehen das die MS-Patienten? Im Jahr 2020 wurde eine Studie veröffentlicht, die sich genau mit dieser Frage beschäftigt hat. An der globalen Umfrage nahmen 485 RRMS-Patienten im Alter zwischen 18 und 59 Jahren teil, die zu diesem Zeitpunkt eine medikamentöse Therapie erhielten. Die Teilnehmer wurden zu ihren Erfahrungen mit MS und mit ihrer Behandlung befragt.
Auf Platz eins der Anforderungen an eine Therapie lag die Sicherheit mit 34,2 %. Dicht gefolgt von der Art und Frequenz der Verabreichung mit 33,1 %. Hierbei lagen Behandlungen, die dreimal oder weniger pro Jahr verabreicht wurden, in der Präferenzgewichtung (134,7) deutlich vor den Alternativen. An dritter Stelle kam die Wirksamkeit mit 32,8 % (Minderung der Schubrate (15,3 %) und Krankheitsprogression (17,5 %)).
Damit zeigt sich, dass sowohl Ärzte als auch Patienten Therapien bevorzugen, die sicher und effektiv, aber auch flexibel sind.
Dank der Fortschritte bei der Diagnose und den Behandlungsmöglichkeiten der vergangenen Jahrzehnte hat sich die Lebensqualität von MS-Patienten, bei konsequenter und fachgerechter Behandlung, verbessert. Auch unser Verständnis der Erkrankung ist in dieser Zeit besser geworden. Dennoch bedeutet das nicht, dass wir damit am Ende der Möglichkeiten und vor allem Notwendigkeiten für neue Behandlungsoptionen sind.
Für die Entwicklung neuer MS-Präparate ist ein tieferes Verständnis der genauen Vorgänge bei MS erforderlich, insbesondere der pathologischen Veränderungen der BHS.
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DE-NONNI-00800, Stand: 10/2024