Aktuell verfügbare Optionen zur Behandlung von MS (Stand 10/2022)
Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Dr. h. c. Sven Meuth ist seit 2020 ärztlicher Direktor der Klinik für Neurologie der Uniklinik Düsseldorf. Als Arzt und Wissenschaftler beschäftigt er sich mit Fragen rund um die Patientenversorgung, um diese zu verbessern. In seinem eigenen Blog "Reine Nervensache" behandelt er vielfältige Themen rund um die Neurologie.
In unserem dreiteiligen Interview beantwortet Prof. Meuth Fragen zu seinem Forschungsschwerpunkt, der Neuroimmunologie im Kontext der MS. In den ersten beiden Teilen ging es unter anderem um den Aufbau und die Funktion unseres Immunsystems, sowie die Pathomechanismen der MS.
Im dritten und letzten Teil dieser Interviewreihe wenden wir uns den unterschiedlichen Wirkansätzen der aktuell verfügbaren verlaufsmodifizierenden MS-Therapien zu. Des Weiteren zeigen wir auf, auf welche Zellen des Immunsystems die aktuell verfügbaren MS-Therapien abzielen.
Behandlung von MS: Immunsupprimierende und immunmodulierende Medikamente
Merck:
Nachdem wir beim letzten Interviewteil über das angeborene und adaptive Immunsystem im Kontext der MS gesprochen haben und somit wissen, welche Immunzellen beim Pathomechanismus der MS eine Rolle spielen, möchten wir nun über die verlaufsmodifizierenden MS-Therapeutika und ihre Wirkweise auf diese Zellen schauen. Könnten Sie uns kurz die grundlegenden Wirkansätze der aktuell verfügbaren verlaufsmodifizierenden MS-Therapeutika aufzeigen?
Prof. Meuth:
Einerseits gibt es „klassische“ immunsupprimierende Medikamente, die in der Vergangenheit ihren Stellenwert hatten, die recht unspezifisch wirken und das Immunsystem als Ganzes herunterregulieren. Diese Substanzen werden heute noch für andere Autoimmunkrankheiten wie Rheumatoide Arthritis, Morbus Crohn oder Lupus eingesetzt. Bei MS werden diese Medikamente aber mittlerweile selten verwendet, was unter anderem auch an ihrem teils ungünstigen Nebenwirkungsprofil liegt. Des Weiteren fehlen zu diesen Substanzen auch breite kontrollierte Studien. In der Behandlung der MS finden aktuell immunsupprimierende Medikamente Verwendung, die spezifisch einzelne Bestandteile des körpereigenen Abwehrsystems hemmen. Dabei werden bestimmte Immunzellen gezielt in ihrer Funktion unterdrückt, um eine schädigende Attacke auf das Nervensystem zu verhindern.
Es gibt aber auch sogenannte immunmodulierende Medikamente, die gezielt bestimmte Teile oder Prozesse des Immunsystems beeinflussen, um die nicht gewollte proentzündliche Immunantwort zu reduzieren. Dies können z. B. Botenstoffe sein, die therapeutisch eingesetzt werden, um die Kommunikation der Immunzellen untereinander zu beeinflussen, ohne das Immunsystem zu schwächen.
Über Interferone, Glatirameracetat, Teriflunomid bis hin zu Cladribin – Medikamente bei MS
Merck:
Auf welche Zellen des Immunsystems zielen die aktuell verfügbaren MS-Therapien ab?
Prof. Meuth:
Im Wesentlichen wirken die aktuell verfügbaren MS-Medikamente auf die B- und T- Lymphozyten – wobei wir bei einigen der Therapien immer noch nicht ganz genau verstehen, wie sie eigentlich wirken! Die ersten verfügbaren Medikamente waren Mitte der 90er Jahre die Interferone und das Medikament Glatirameracetat. Beide Wirkstoffe werden via Injektion verabreicht. Interferone zählen zu den sogenannten Zytokinen. Das sind Proteine, die im Körper natürlich vorkommen und antiviral, antiproliferativ und immunmodulierend wirken. Ursprünglich wurden die Interferone aufgrund ihrer antiviralen Eigenschaften bei MS untersucht. Damals wie heute wird der Zusammenhang zwischen bestimmten Virusinfektionen als eine der Ursachen der MS diskutiert. Von außen, in der Form sogenannter Beta-Interferone angewandt, verringern sie bei MS die Schubrate, die Entzündungsaktivität im MRT und das Fortschreiten der Behinderungsprogression. Wie oben schon erwähnt, ist die Wirkungsweise von Beta-Interferonen bei MS nicht genau geklärt.
Glatirameracetat setzt sich aus vier natürlichen Aminosäuren zusammen. Seine Geschichte ist ziemlich interessant, denn es wurde ursprünglich in den 60er Jahren am Weizmann-Institut in Israel dazu entwickelt, unter experimentellen Bedingungen eine Autoimmunreaktion gegen das Gehirn von Versuchstieren zu verstärken! Dann hat man aber bemerkt, dass es genau das Gegenteil bewirkte, sodass seine Entwicklung zum MS-Medikament in Angriff genommen wurde. Auch seine Wirkweise ist nicht abschließend geklärt. Ebenfalls zu den immunmodulierenden Medikamenten zählen Dimethylfumarat, Diroximelfumarat und Teriflunomid, die in Tablettenform verabreicht werden. Dimethylfumarat und Diroximelfumarat leiten sich von der Fumarsäure ab, die in Pflanzen, Pilzen und Flechten vorkommt und medizinisch schon seit längerem zur Behandlung der Psoriasis eingesetzt wird. Beide Wirkstoffe reduzieren entzündungsfördernde und erhöhen entzündungshemmende Botenstoffe. Ihre genaue Wirkweise bei MS ist noch nicht vollständig bekannt. Teriflunomid wiederum ist ein Medikament, das in einer Vorstufe (sogenanntes Prodrug) schon bei rheumatoider Arthritis verwendet wurde und wird. Es hemmt – Achtung, jetzt kommt ein Zungenbrecher! – das Enzym Dihydroorotatdehydrogenase, das für die Zellvermehrung von aktivierten Lymphozyten wichtig ist. Weniger fehlgeleitete Lymphozyten heißt, einfach gesagt, weniger Entzündung, was dann bei MS zu weniger Schüben führt.
Alle diese Medikamente werden bei eher weniger aktiven MS-Verläufen eingesetzt, während wir bei hochaktiven MS-Formen auf andere Medikamente in unserem Arsenal zurückgreifen. Dazu gehören zum Beispiel sogenannte „Trafficking agents“, wie Natalizumab oder S1P-Modulatoren wie Fingolimod, Ozanimod und Ponesimod, die verhindern, dass Lymphozyten über die Blut-Hirn-Schranke ins ZNS einwandern können. Natalizumab, dass intravenös verabreicht wird, blockiert dabei bestimmte Rezeptoren, die wichtig für das Andocken von Immunzellen an die Innenwände von Gehirngefäßen sind, während die S1P-Modulatoren, die in Tablettenform eingenommen werden, verhindern, dass die Lymphozyten überhaupt aus den Lymphknoten hinausgelangen. Andere Medikamente, wie Ocrelizumab, das per Infusion verabreicht wird, oder Ofatumumab, das subkutan gespritzt wird, schalten ganz gezielt B-Lymphozyten aus.
Schließlich gibt es Cladribin, das spezifisch von Lymphozyten aufgenommen wird, deren Stoffwechsel so beeinflusst, dass die proentzündlichen T- und B-Lymphozyten vermindert werden und das Alemtuzumab, das als Antikörper u. a. B-, als auch T-Lymphozyten durch seine immunsuppressive Wirkung neutralisiert. Neuere Forschungen haben übrigens gezeigt, dass Medikamente, wie die S1P-Modulatoren, Cladribin, auch die Blut-Hirn-Schranke überwinden können. Im Gehirn könnten sie Zellen, wie zum Beispiel sogenannte Mikrogliazellen oder Astrozyten modulieren, die an den chronischen Entzündungsprozessen und der Neurodegeneration bei MS maßgeblich beteiligt sind. Diese Forschungsansätze sind jedoch relativ neu und vieles ist noch unbekannt. Therapeutische Antikörper, wie Alemtumzumab oder Ocrelizumab sind übrigens, gemessen an der Welt der Moleküle, relativ groß und überwinden die intakte Blut-Hirn-Schranke nur zu maximal 0,7 %.
Die Bedeutung von früher Behandlung und Impfung bei MS
Was sind die Herausforderungen bei der Behandlung mit den MS-Therapeutika? Auch im Hinblick auf die Langzeitbetrachtung?
Prof. Meuth:
Eine der größten Herausforderungen ist aktuell die Frage, mit welchem der oben genannten Medikamente man überhaupt bei einer neu diagnostizierten MS starten soll! Es gibt zwar Empfehlungen, die die zur Verfügung stehenden Präparate in drei Wirkstärke-Kategorien einteilen, das ist aber bei weitem nicht unumstritten! Wäre es nicht am besten, wenn man sofort mit der stärksten Therapie beginnen würde? Quasi gemäß dem Prinzip „hit hard and early“? Nun, auch wenn das vielleicht erstmal verlockend und logisch klingt, sind wir da etwas vorsichtiger, denn nicht jedes Medikament ist für den individuellen Patienten gleich gut geeignet. Wir folgen da dem Prinzip „hit SMART and early“! Ein Aspekt der Behandlungsstrategie, der nach wie vor zu Unsicherheiten führt, ist nämlich die Frage, ob eine Therapie mit besonders starken Medikamenten zu einer vermehrten Infektanfälligkeit führt. Immerhin wird ja das Immunsystem verändert! Und tatsächlich: Es gibt bestimmte hochwirksame Therapien, durch die Schlupflöcher im Immunsystem geöffnet werden, die Erreger ausnutzen können. Allerdings, und das ist ganz wichtig, überwiegt der Nutzen der Therapien ganz klar dieses Risiko!
Generell ist es aber trotzdem sinnvoll, vor einer Therapie zum Beispiel alle vom Robert Koch Institut (RKI) empfohlenen Impfungen zu vervollständigen. Zum Thema Impfungen übrigens: Impfungen lösen bei weitem weniger wahrscheinlich einen Schub aus als die Erkrankung, gegen die sie schützen sollen – das ist mittlerweile klar bewiesen! Dennoch achten wir Ärzte ganz genau darauf und machen vor jeder Behandlung eine sogenannte Risikostratifizierung, die uns dabei helfen soll, für jeden Patienten das optimale Medikament zu finden. Dabei geht es übrigens auch noch um einen anderen Aspekt, nämlich den der Adhärenz. Das heißt, ob ein Patient, die Therapie auch wirklich „mitmacht“, sprich, sich nach seinem Behandlungsplan regelmäßig spritzt, seine Tabletten einnimmt oder zu den Infusionsterminen in der Klinik erscheint. Hierbei kommt es vor allem auf eine gute Arzt-Patient-Beziehung und offene Kommunikation an. Entscheidungen für oder gegen eine Therapie treffen wir Ärzte gemeinsam mit den Patienten. Wir sehen uns da als Berater der Patienten, mit denen wir an einem Strang ziehen möchten.
DE-NONNI-00301 10/2022