 
                          Auch bei Multipler Sklerose – Kompromissfrei Leben durch Wissen
Wissen ist Macht. Dieses geflügelte Wort stammt vom englischen Philosophen Francis Bacon und beschreibt, welches die wahre Stärke von Wissen ist, die uns ermächtigt, besser mit schwierigen Situationen umgehen zu können und rationale Entscheidungen zu treffen. Weil Wissen Ängste nimmt und beruhigt. Ähnlich kann es bei Deiner MS sein. Die Diagnose ist vielleicht erst einmal ein Schock. Was passiert in meinem Körper? Welche Auswirkungen hat die Krankheit? Welche Therapiemöglichkeiten gibt es? In unserem heutigen Beitrag geben wir Dir essenzielles Wissen an die Hand, damit Du die Erkrankung besser verstehst und Deine Stärke wiederentdeckst. Kompromissfrei.
Das ist Dir alles nicht neu und Du bist bereits bestens informiert? Dann teste Dein Wissen unbedingt in unserem MS-Quiz samt Zeitfaktor und steigendem Schwierigkeitsgrad. Falls du nach dem Quiz bei bestimmten Fragestellungen dann doch mehr erfahren möchtest, kannst du dich gerne weiter auf unserer Webseite umschauen. In unseren Artikeln werden viele Themen noch einmal genauer erläutert und verständlich erklärt.
Multiple Sklerose ist eine Autoimmunerkrankung
MS ist eine Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS), was bedeutet, dass Dein eigenes Immunsystem der Grund für die Erkrankung ist. Statistisch gesehen beginnt die Erkrankung meist zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr und betrifft Schätzungen zufolge in Deutschland rund 250.000 Menschen, weltweit sogar bis zu 2,8 Millionen. Frauen zwei bis dreimal häufiger als Männer.
Das menschliche ZNS setzt sich aus Gehirn und Rückenmark zusammen. Dort finden sich Nervenzellen, die über Nervenfasern miteinander in Verbindung stehen. Das sind Fortsätze der Zellen, die man auch als Axon (Mehrzahl Axone) bezeichnet. Über sie kommunizieren die Zellen des ZNS miteinander, indem Impulse des Gehirns als elektrische Signale mit bis zu 100 Metern pro Sekunde durch den Körper schnellen. Verantwortlich für diese rasche Weiterleitungsgeschwindigkeit ist die schützende Isolierschicht der Nervenfasern, das Myelin.
Das ZNS ist ein empfindliches System und für seine korrekte Funktionsweise bedarf es einer speziellen Abschottung vom Rest unseres Körpers. Dies übernimmt die Blut-Hirn-Schranke (BHS), eine Barriere, die unerwünschte Bestandteile des Blutes zurückhält und nur solche passieren lässt, die für die Funktion des ZNS benötigt werden. Bei MS-Betroffenen kommt es zu einer Störung dieser Schutzfunktion und körpereigene Immunzellen können die BHS überwinden und in das ZNS eindringen.
Bei diesen Immunzellen handelt es sich um T- und B-Zellen. Sie sind in der Lage, Bestandteile von Krankheitserregern oder Oberflächenproteine von Zellen, sog. Antigene, zu erkennen und eine spezifisch auf diese Antigene abgestimmte Immunreaktion auszulösen. Teil dieser Immunantwort ist auch stets eine Entzündung, die im Normalfall hilft, Erreger zu bekämpfen, um eine anschließende Heilung des betroffenen Gewebes zu ermöglichen. Die Entzündung im Zusammenspiel mit den Immunzellen sorgt für eine effektive Reaktion des Körpers. Diese wird zum einen durch die Interaktion der T- und B-Zellen untereinander erreicht und veranlasst die B-Zellen zur Produktion von auf bestimmte Antigene abgestimmten Antikörpern. So werden Krankheitserreger oder aber auch körpereigene Zellen (wenn sie z. B. von einem Virus infiziert sind) markiert und von anderen Immunzellen im Anschluss eliminiert. Auch Mikroglia sind Teil dieser langen Reihe an Faktoren, die bei MS-Betroffenen zur Schädigung der Neuronen führen. Mikroglia sind spezialisierte Zellen des ZNS und ebenfalls Bestandteil unseres Immunsystems. Durch Interaktion mit T-Zellen werden Mikroglia aktiviert und schütten Zytokine aus. Das sind Botenstoffe unseres Immunsystems, die andere Immunzellen aktivieren und dafür sorgen, dass diese ins ZNS einwandern. Sie verstärken also die Entzündungsreaktion.
Gleichzeitig können T- und B-Zellen im Anschluss an die Bekämpfung des Krankheitserregers als eine Art Immungedächtnis fungieren, um bei erneutem Kontakt mit denselben oder ähnlichen Antigenen schneller reagieren zu können. Dieser gesamte Reaktionsprozess ist bei MS-Patienten fehlgeleitet und führt zur Schädigung der isolierenden Myelinschicht der Nervenfasern.
Multiple Sklerose und ihre Symptome
Fehlgeleitete T- und B-Zellen sorgen für Entzündungsreaktionen an den Nervenfasern. Durch eine dauerhafte Entzündung wird die Myelinschicht der Axone zerstört und die Signalleitung der Nerven verlangsamt sich. Diesen Vorgang nennt man Demyelisierung. Einfach ausgedrückt könnte man es mit einem Kurzschluss vergleichen, ausgelöst durch eine defekte Kabelisolierung. Mit Zunahme dieser „Kurzschlüsse“ kommt es zur Beeinträchtigung der Funktion der betroffenen Areale. So ergeben sich die für MS typischen Symptome, wie z. B. Taubheitsgefühl in Armen und Beinen, starke Müdigkeit (Fatigue) oder Sehstörungen. Die Symptomatik kann sich dabei von Patient zu Patient stark unterscheiden.
Bei Schädigung der Myelinschicht, nicht nur aufgrund der MS, sondern allgemein, ist unser Körper in der Lage, das geschädigte Myelin zu reparieren. Diesen Prozess nennt man Remyelisierung. Ist die Schädigung nicht schwerwiegend oder dauerhaft, kann dadurch die normale Funktion der Nerven wieder hergestellt werden. Bei MS-assoziierten Entzündungen ist dies leider nicht immer der Fall. Es kann zwar zu einer vollständigen Reparatur kommen, aber wie bereits erwähnt nur, wenn der Schaden nicht schwerwiegend oder dauerhaft ist. Die andere Variante ist, dass die Myelinschicht nur zum Teil, z. B. dünner als vor der Demyelinisierung, oder gar nicht wiederhergestellt wird, was wiederrum dazu führt, dass der betroffene Nerv irreparabel geschädigt werden kann. Bei einer Autoimmunerkrankung wie der MS, kann es immer wieder zu einer Schädigung, evtl. gleicher Neuronen, kommen. Die Folge davon ist eine dauerhafte Schädigung der betroffenen Nerven und ZNS-Areale und damit einhergehende Funktionsstörungen des ZNS. Diese wird im Krankheitsverlauf bei wiederkehrender Demyelisierung ebenfalls wahrscheinlicher. Aus diesem Grund ist es wichtig, eine passende Therapie frühzeitig zu beginnen, um die Krankheit mit möglichst hoher Wahrscheinlichkeit kontrollieren zu können.
Die folgende Abbildung veranschaulicht die aktuell bekannten Prozesse, wie sie in unserem Nervensystem bei MS in den frühen Stadien ablaufen.
Verlaufsformen der Multiplen Sklerose
So wie die Symptome bei jedem Patienten unterschiedlich sind, so ist auch der Verlauf der Erkrankung nicht für jeden gleich. Dennoch kann man grundsätzlich zwischen den folgenden Verlaufsformen unterscheiden. Die schubförmig remittierende MS (RRMS; Relapsing Remitting Multiple Sclerosis) betrifft zu Beginn etwa 80% der Patienten. Sie ist charakterisiert durch plötzlich auftretende Schübe mit anschließender zum Teil vollständiger Remission, d. h. Rückbildung der Symptome. Bleibt die MS unbehandelt, geht sie nach durchschnittlich 20 Jahren in einen sekundär chronisch-progredienten Verlauf (SPMS; Secondary Progressive Multiple Sclerosis) über. Die Häufigkeit der Schübe nimmt ab, die Symptome bleiben bestehen und nehmen kontinuierlich zu. In selteneren Fällen kann die Erkrankung auch einen primär chronisch-progredienten Verlauf (PPMS; Primary Progressive Multiple Sclerosis) nehmen. Hier treten Schübe nicht bzw. nur sehr selten auf und die Symptome verschlechtern sich fortschreitend.
Jede MS ist also geprägt von Aktivität, d. h. Häufigkeit von Schüben, und Progression, d. h. schubunabhängiger objektivierter Zunahme von physischen und psychischen Einschränkungen. Aktivität und Progression sind für jeden Betroffenen individuell, was aber für ca. 90% der Patienten gleich ist, ist das Auftreten von mindestens einem Schub im Verlauf ihrer MS. Von einem Schub spricht man bei Auftreten neurologischer Symptome, die mindestens 24 Stunden andauern oder über einen Zeitraum von 24 Stunden immer wiederkehren. Der letzte Schub muss dabei mindestens 30 Tage zurückliegen und andere Ursachen der Symptome ausgeschlossen sein.
Auch wenn man als Betroffener die MS vor allem während eines solchen Schubs bemerkt, ist es dennoch nicht zwangsläufig einfach, ihn auch zu erkennen. Das Wichtigste ist es, sich mit den häufigsten Symptomen der MS zu befassen, auf die Signale des eigenen Körpers zu hören und diese Deinem behandelnden Arzt gut zu beschreiben. Mehr Informationen dazu findest du hier.
Therapiemöglichkeiten der Multiplen Sklerose
Heutzutage stehen unterschiedliche Therapieoptionen zur Verfügung. Die Wahl der passenden Therapie ist für jeden Betroffenen sehr individuell, man unterscheidet aktuell aber zwischen zwei Therapieansätzen: „treat to target“ und „hit hard and early“. Während bei „treat to target“ zu Beginn moderat wirkende Medikamente eingesetzt werden, erfolgt bei der „hit hard and early“-Strategie der zeitnahe Einsatz hocheffektiver Therapien. Mehr zu diesem Schwerpunkt und weitere Hintergründe erfährst Du in unserem Artikel zur Therapieentscheidung und unserem Interview mit Dr. Gehring.
Die Wahl der passenden Therapie ist immer eine gemeinsame Entscheidung mit Deinem Arzt. Es gibt aber auch zusätzliche Maßnahmen, die Du aktiv ergreifen kannst, um Deine Therapie zu unterstützen. So bist Du z. B. gerade dabei den ersten Schritt zu machen: Informiere Dich weiter über Deine MS, denn Verständnis schafft Vertrauen. Weitere Möglichkeiten sind Komplementärmethoden, wie Ayuverda oder Akupunktur, sowie Entspannungstechniken, die Dein Wohlbefinden steigern und Dein Stresslevel senken, denn Stress kann Symptome einer MS-Erkrankung verschlechtern. Informiere Dich auch über Mittel und Wege, um Deinen Therapieplan nicht aus den Augen zu verlieren, da langfristige Therapietreue entscheidend ist für einen erfolgreichen Behandlungsverlauf. Auf keinen Fall solltest Du Deine Therapie selbstständig und ohne es mit Deinem Arzt abzusprechen, modifizieren oder gar abbrechen, denn selbst wenn die MS gerade nicht spürbar ist, ist Sie dennoch aktiv und ein unkontrollierter Therapieabbruch kann fatale Folgen haben. Sprich mit Deinem Behandlungsteam über alle Fragen, die Du hast. Denn bei Deiner Gesundheit gibt es keine Tabus und nie zu viel Wissen.
Neuroreha bei einer Multiplen Sklerose-Erkrankung
Kennst Du zum Beispiel den Begriff „Neuroreha“?
Unser Gehirn ist unser ganzes Leben lang lernfähig und in der Lage sich wandelnden Bedingungen anzupassen. Diese Neuroplastizität kann man bewusst trainieren. Insbesondere bei MS-Betroffenen spielt das eine große Rolle. Wenn wir älter werden, sind wir zwar nur noch bedingt in der Lage, die Anzahl unserer Neuronen zu vergrößern, aber wenn wir lernen, bilden sich fortwährend neue Synapsen (Verknüpfungen zwischen den Neuronen) aus. Dadurch können wir neue Zusammenhänge erfassen und die Welt immer wieder aufs Neue interpretieren. Die Neuroplastizität geht sogar so weit, dass sich unser Gehirn sogar von Schlaganfällen und Verletzungen, auch durch MS, erholen kann, wenn der Schaden es erlaubt.
Das ist der Punkt, an dem die Neuroreha ins Spiel kommt. Hier werden körperliches und kognitives Training vereint und so die Neuroplastizität gefördert. Denn lernen basiert nicht nur darauf, dass wir uns geistig weiterbilden, sondern auch neue physische Tätigkeiten trainieren, wie z. B. das Erlernen neuer Sportarten. Hier findest Du Tipps für Sportarten, die gerade für MS-Betroffene vorteilhaft sein können.
Aktuelles aus der Multiplen Sklerose-Forschung
Wusstest Du, dass es bis 1993 kein zugelassenes Therapeutikum für MS-Betroffene gab? Es hat sich seitdem einiges getan und man weiß bereits viel über die Krankheit und ihre Behandlung. Dennoch gibt es noch genügend Unbekannte und einiges zu lernen, um wirklich alle Zusammenhänge, die zur MS führen, zu verstehen. Es gibt also große Aufgaben für die Wissenschaft und gerade auf dem Feld der Neuroimmunologie tut sich einiges. Diese Forschungsdisziplin beschäftigt sich mit den Wechselwirkungen zwischen Nervensystem und Immunsystem und somit mit der Entstehung, der Diagnose und der Therapie von Entzündungen und Autoimmunerkrankungen wie bei der MS. Was ist die genaue Funktion der BHS? Wie schaffen es T- und B-Zellen diese zu überwinden? Warum reagieren bestimmte Immunzellen gegen körpereigene Strukturen? Das sind alles Punkte an denen aktuell geforscht wird, denn das Wissen über diese Zusammenhänge kann allen MS-Betroffenen helfen.
Erst kürzlich wurden deshalb wegweisende Ergebnisse im Bereich der klinischen und experimentellen Forschung zur MS mit dem Sobek Forschungspreis ausgezeichnet.
Der Preis ist die höchste Auszeichnung in Europa für die Grundlagenforschung an Multipler Sklerose. Geehrt wurden u. a. folgende Forschungsschwerpunkte und Wissenschaftler:
- Prof. Dr. med. Alexander Flügel für seine bahnbrechenden Ansätze zur Mikroskopie an lebendem Gewebe, um immunologische Prozesse im ZNS darstellen und verfolgen zu können, mit dem Ziel die Stadien der Krankheitsentwicklung besser zu definieren. So gelang es erstmals, Bewegungsmuster von krankmachenden T-Zellen bis zur Überwindung der BHS zu visualisieren und somit ein direkter Blick auf das Entzündungsgeschehen.
- Prof. Dr. Lucas Schirmer sowie Prof. Dr. Anne-Katrin Pröbstel für die Identifizierung neuer zelltypspezifischer Krankheitsmechanismen. Die Erweiterung des Verständnisses zur Rolle von B- und T-Zellen bei MS auf genetischer Ebene gehört zu den herausragenden Leistungen beider Forscher. Mit ihren Arbeiten liefern sie ein detaillierteres Bild der komplexen Vorgänge bei der Entstehung von MS, besseres Krankheitsverständnis und damit das Potential für die Entwicklung neuer Therapien.
- PD Dr. Benjamin Knier für seinen Beitrag im Bereich der Diagnostik. Er entdeckte mittels Tomographie, dass bereits im Vorstadium MS sichtbare Veränderungen der Netzhaut auftreten, die Hinweise auf den späteren Krankheitsverlauf geben können und als Perspektive für eine möglichst frühe Behandlung der Krankheit dienen könnten.
Die Grundlagenforschung im Bereich MS ist vielfältig und es wird in den nächsten Jahren mit Sicherheit weitere Durchbrüche auf diesem Feld geben. Du siehst also: Es gibt noch viel zu lernen.
Jetzt hast Du einen Ausschnitt zu den Themen, über die Du dich auf unserer Webseite informieren kannst bekommen und auch einen kleinen Abriss über die MS im Allgemeinen erhalten. Manches davon war für Dich vielleicht neu, anderes möglicherweise wieder erlernt. Lernen ist jedoch ein kontinuierlicher Prozess und gelingt nur durch Wiederholung. Wie wäre es also mit unserem MS-Quiz um zu sehen, was Du schon verinnerlicht hast und welche Themen Du noch vertiefen könntest? Dafür stehen Dir zum Beispiel unsere Broschüren im Downloadbereich zur Verfügung oder natürlich der Austausch in der LMMS-Community auf Facebook und Instagram. Dort erreichst Du auch unser Team und kannst uns gerne Feedback geben zu Themen rund um die MS, die Dich im speziellen Interessieren.
Bis dahin: Go up – Go science – Go for life!
DE-NONNI-00260 (08/2022)
