Die MS-Therapie aus dem Blickwinkel eines Neurologen

Dr. med. Klaus Gehring ist Facharzt für Neurologie sowie für Psychiatrie und Psychotherapie im Neurozentrum am Klosterforst in Itzehoe, wo er mehr als 1.000 Patienten mit MS betreut. Außerhalb seiner ärztlichen Tätigkeit in der Praxis ist er Mitglied in diversen Fachgesellschaften. Hier ist Dr. Gehring unter anderem Vorsitzender im Bundesverband Deutscher Nervenärzte und engagiert sich stark in der neurologischen Gemeinschaft. In unserem Interview haben wir mit ihm rund um das Thema MS und deren Therapie gesprochen, um mehr dazu aus dem Blickwinkel eines behandelnden Neurologen zu erfahren.

Im 1. Teil unserer Interviewserie geht es um die unterschiedlichen Therapieansätze.

Merck:

Sehr geehrter Herr Dr. Gehring, wir haben derzeit zwei Therapieansätze, die in der Fachwelt diskutiert werden unter den MS-Experten. Das eine ist das Stufenschema, sprich das „treat to target“ vs. dem „hit hard and early“-Prinzip. Könnten Sie diese Therapieansätze bitte kurz erläutern.

Dr. Gehring:

Im Grunde spiegeln diese vermeintlichen verschiedenen Positionen eigentlich nur das wider, was wir täglich in Abwägung mit unseren Patienten machen.

In das Denkschema von allen Behandlern hat sich doch eine gewisse Abstufung der Therapien etabliert. Wir alle sind der festen Ansicht, dass wir Präparate haben, die mild/ moderat wirken. Und auf der anderen Seite gibt es Therapien, die als hochwirksam eingestuft werden.

Wenn man die beiden Therapieansätze miteinander vergleichen möchte, dann stellt der Ansatz „treat to target“ eher die Patientensicherheit in den Vordergrund. Bei diesem Ansatz werden – sofern kein hochaktiver Verlauf vorliegt – die mild-moderaten Therapieoptionen der Kategorie* 1 in Betracht gezogen und erst zu einem späteren Zeitpunkt hochwirksame Therapien der Kategorien* 2 und 3 eingesetzt. Liegt ein wahrscheinlich hochaktiver Verlauf vor, lässt allerdings auch dieser Ansatz einen frühzeitigen Einsatz von Substanzen der Kategorien* 2 und 3 zu.

Die andere Option, dass „hit hard and early“-Prinzip, stellt die objektive Kontrolle dieser Erkrankung und die messbare Erhaltung der Lebensqualität des Patienten in den Fokus. Wobei hier ein höheres Risiko für Nebenwirkungen in Kauf genommen wird. Hier geht es also in erster Linie darum, die Krankheit vollständig zu kontrollieren, überhaupt keine Krankheitsaktivität zuzulassen. Man spricht dabei vom Prinzip No-Evidence-of-Disease-Activity. Damit ist das Fehlen jeglicher Schübe wie auch MRT-Aktivität und Behinderungsprogression gemeint. Dieser Ansatz bietet eine Rationale zu einem frühzeitigen Einsatz von hochwirksamen Therapien.

Merck:

Stehen für Sie die beiden Therapieansätze im Widerspruch?

Dr. Gehring:

Der wichtige Punkt ist, dass diese beiden Ansätze ein Abwägen bedeuten, welches wir täglich neu mit unseren Patienten durchführen: wie groß ist das Risiko seitens der MS und welches Risiko durch die Therapie sind wir bereit einzugehen, um diesem zu begegnen. Damit stellen beide Perspektiven keinen Widerspruch zueinander dar; sie lassen sich symbiotisch verbinden. Im Mittelpunkt sollte die individuelle Patientensituation, die MS-Verlaufsform und deren Prognosekriterien bei der Therapieentscheidungen stehen.

Jeder von uns Behandlern hat Patienten, auf die der eine Ansatz besser passt als der andere und umgekehrt. Man sollte sich jedoch immer vor Augen halten, dass bereits gezeigt werden konnte, dass wenn eine Behandlung zu spät erfolgt, die Behandlungsergebnisse langfristig schlechter ausfallen. Es geht darum, die Lebensqualität und Funktionalität des Patienten maßgeblich und langfristig zu erhalten. Wenn man also davon ausgeht, dass die Hauptentzündungsaktivität und damit auch das Hauptrisiko Schaden zu nehmen, zu Beginn ist, dann wäre es am besten mit dem „ersten Schuss einen Treffer“ zu setzen.

* Wirksamkeitskategorien aus der aktuellen S2k-Leitlinie der DGN.


DE-NONNI-00209 (05/2022)