Die ersten Symptome der MS

Wann hast Du die ersten Symptome bemerkt und wie sahen diese aus?

Das erste Mal, als ich die MS bemerkt habe, hat sich die Muskulatur in meinem rechten Oberschenkel verkrampft. Dadurch habe ich meinen Fuß nicht mehr benutzen können und habe ihn hinter mir hergezogen. Daraufhin bin ich zu meiner Neurologin, bei der ich schon aufgrund meiner Migräne in Behandlung war. Sie hatte recht schnell einen ersten Verdacht. Deswegen hat sie mich auch direkt zur Lumbalpunktion für eine MS-Diagnose geschickt.

Das erste Jahr nach der Diagnose war ein dauerhaftes Auf und Ab. Es hat mich psychisch stark mitgenommen. Niemand hat mir gesagt, was ich machen und worauf ich achten soll. Das musste ich alles selbst herausfinden. Inzwischen weiĂź ich, was mir hilft, was mir guttut und was ich mir zutrauen kann.

Mittlerweile kenne ich auch andere MS-Betroffene, mit denen ich mich austauschen kann. Ich gehe zum Beispiel auf Patientenveranstaltungen, um mich auf dem Laufenden zu halten. Meinen Partner nehme ich bewusst mit, damit er sich ein besseres Bild machen kann. Dadurch fällt es ihm leichter zu verstehen, wann ich Hilfe brauche und er kann von sich aus aktiv werden. Vor allem für die Tage, an denen meine Symptome unsichtbar sind.

Wie äußerten sich Deine ersten Schübe bei Dir?

Der erste Schub war schon wenige Monate nach der Diagnose. Meine Beinmuskeln haben sozusagen „den Geist aufgegeben“. Ich konnte weder Autofahren noch mein Kind in den Kindergarten bringen und meine Wege haben sich auf die Strecke zum Arzt und zurück beschränkt. Wenn ich mich bewegen wollte, brauchte ich meine Nordic-Walking-Stöcke. Ohne ging gar nichts.

Bis zum zweiten Schub verging dann eine längere Zeit. Da war ich eines Morgens mit dem Auto unterwegs und habe gemerkt, dass sich meine Oberschenkelmuskulatur anders anfühlt. Ich kann dieses Gefühl nicht mal richtig beschreiben. Auf jeden Fall habe ich nicht lange gezögert, bin direkt zum Arzt und habe meine Kortisonbehandlung bekommen. Daraufhin gingen die Symptome schnell wieder weg.

Mittlerweile nehme ich ein Medikament gegen die MS, das mir auch sehr hilft und mit dem ich gut zurechtkomme. Gegen die Spastik erhalte ich ein zusätzliches Arzneimittel.

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Die Diagnose hat Dich psychisch stark belastet. Wie bist Du damit umgegangen?

Ich hatte vor allem Angst um meine Zukunft: „Wie geht es mit mir weiter? Was, wenn ich nicht mehr laufen kann?“. Ich habe zu dem Zeitpunkt schon im 4. Stock gewohnt. Ohne Aufzug. Heute habe ich mich damit arrangiert. Aber damals hatte ich keine Vorstellung, wie ich das mit einer Gehbehinderung machen soll. Ich wusste nur, dass ich alles in meiner Macht Stehende machen werde, um so lange wie möglich fit und mobil zu bleiben. Mit allem anderen wollte und will ich mich nicht zufriedengeben.

Der zweite große Stolperstein für meine Psyche war meine Verrentung. Vor meiner Erkrankung habe ich 10 Jahre lang in der Produktion gearbeitet. 2018 kam die Diagnose, bald darauf die Arbeitsunfähigkeit und 2019 die Verrentung. Die gleichzeitige Sorge um meine finanzielle und gesundheitliche Zukunft hat dieses erste Jahr zu einer echten Prüfung gemacht. Vor allem, weil sich schon ein Jahr später plötzlich die Rentenkasse bezüglich einer Überprüfung bei mir gemeldet hat. Ich sollte mit einer Reha wieder fit gemacht werden für den Arbeitsmarkt. Selbst, wenn die MS nicht gewesen wäre, war eine lange Reha aufgrund meiner kleinen Kinder nicht möglich. Also musste ich zum Gutachter. Die Untersuchungen beim Gutachter selbst waren ebenfalls belastend. Ich wurde über einen Zeitraum von etwa 3 Stunden auf Herz und Nieren geprüft: Gedächtnistest, Hirnfunktionsuntersuchungen und intensive Arztgespräche. Am Ende stand fest: Ich habe MS, es wird auch nicht besser und die Kasse braucht sich wegen weiterer Untersuchungen zur Rente wegen MS nicht mehr an mich wenden.

Wie geht es Dir heute mit der MS? Wie sehen Deine Symptome aus?

Ich bin wetterempfindlich geworden. Speziell bei sehr heißen Temperaturen kribbeln meine Hände, Fingerspitzen oder Füße. Es gibt Momente, da verkrampfen sich meine Zehen wie aus dem Nichts. In solchen Fällen helfen mir leichte Massagen, die ich bei der Krankengymnastik für MS-Patienten gelernt habe. Oder auch mein „Roboter-Dasein“. Da bin ich über Tage hinweg so steif, dass ich mich wie ein bewegungsunfähiger Roboter fühle. Besonders die Muskulatur in Beinen und Füßen ist von der MS betroffen, und ich kann nicht mehr richtig auftreten und laufe auf Zehenspitzen.

Auf meine Blase hat die MS auch Einfluss genommen. Viel Verständnis gab es damals aus meinem Umfeld für das Problem leider nicht. Dann kamen Aussagen wie: „Du warst doch gerade erst auf der Toilette.“ Dieser Stress hat die Situation nur verschlimmert. Das waren Dinge, über die sich Nicht-Betroffene keine Gedanken machen müssen, die aber meinen Alltag, je nach Tagesform, stark beeinträchtigten. Inzwischen kann ich eventuelle Probleme mit der Blase durch die MS gut vorhersagen. Damit muss ich mich arrangieren.

"Ich gehe jetzt regelmäßig zur Krankengymnastik"

Gibt es Dinge in Deinem Alltag, die Du bewusst an die MS angepasst hast?

Ich gehe wegen der MS regelmäßig zur Krankengymnastik. Das hat große Auswirkungen auf meinen Bewegungsapparat und ich merke relativ schnell, wenn ich die Übungen für längere Zeit nicht mache. Ausreden bringen an dieser Stelle nichts. Ja, viele von uns können sich vielleicht nicht gut bewegen. Das wird aber durch Vermeidung von Bewegung nicht besser. Am Anfang meiner MS habe ich mich viel zurückgezogen und mir eingeredet, dass ich nichts mehr machen kann. Heute sehe ich, dass es eine Verbesserung nur dann geben wird, wenn ich auch aktiv dafür arbeite.

Deswegen baue ich grundsätzlich Bewegung bewusst in meinen Alltag ein. Innerhalb meiner Grenzen. Wenn ich die Wahl habe, parke ich weiter weg, nehme den längeren Fußweg oder mein E-Bike.

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Hast Du die Erkrankung im privaten Umfeld offen kommuniziert?

Ich habe es allen erzählt. Es konnte aber nicht jeder gleich gut damit umgehen. Eine Reaktion war Verdrängung. Es wurde nicht über die Krankheit gesprochen. Zum Schluss hat es sich angefühlt, als ob ich sogar von Gesprächen ganz ausgeschlossen wurde, wenn ich über meine MS gesprochen habe. Dieses Verhalten habe ich dann gezielt angesprochen.

Für viele ist es ein Problem, eine Erkrankung ernst zu nehmen, die man nicht immer auf den ersten Blick sieht. Ich habe schon so häufig gehört: „Ach, Du siehst heute aber gut aus!“, „Ich habe auch mal Gehprobleme!“ oder „Du hast es gut, Du bist ja in Rente wegen der MS!“. Nein. Meine Gehprobleme sind nicht das Gleiche und nur weil man es mir nicht ansieht, heißt es nicht, dass es mir nicht schlecht geht.

Natürlich erfahre ich auch viel Unterstützung, zum Beispiel von meinen Eltern. Mit meinen Kindern habe ich auch über die MS gesprochen. Damit sie verstehen, warum sie ab und an nur mit ihrem Papa unterwegs sind und ich zuhause bleiben muss. Das versuche ich aber nur auf die Tage zu beschränken, an denen wirklich gar nichts mehr geht. Auf der anderen Seite liest man viel, wie die MS auch Partnerschaften beeinflussen kann. Für mich und meinen Mann war es wichtig, dass wir darüber offen reden können.

"Mein Rat fĂĽr andere Betroffene: Informiert euch aktiv"

Gibt es etwas, dass Du anderen Betroffenen mit auf den Weg geben möchtest?

Mein Rat ist: Informiert Euch aktiv! Wartet nicht darauf, dass Euch die Informationen ĂĽber Eure Erkrankung zugetragen werden. Und haltet Euch auf dem Laufenden. Das hilft nicht nur dabei, die MS besser zu verstehen, es gibt einem auch einen positiveren Ausblick. Aber vor allem schafft Euch einen Ăśberblick. Alles in Bezug auf Eure Gesundheit steht in Zusammenhang miteinander.

Und sprecht offen über Eure MS. Nur so könnt Ihr Euer Umfeld aufklären und Verständnis schaffen. Es ist gar nicht so lange her, da wusste kaum einer, was MS ist und was eine Diagnose bedeutet. Dabei hat sich vieles verändert: in der Behandlung, im Leben und im Umgang mit der MS. Heutzutage ist so viel möglich!

Ăśber mich selbst und mein Leben mit MS kann ich heute sagen, dass ich stolz auf mich bin und auf das, was ich bisher erreicht habe. Ich weiĂź, was mir guttut und wie es mir auch mit MS gut geht. Meine Familie gibt mir hilft mir am meisten dabei, positiv in die Zukunft zu sehen.

Danke, Nicole, dass Du Deine ermutigende Geschichte mit uns teilen wolltest.

Wenn auch Du über Deine Erlebnisse, Deine Erfahrungen, Deinen Umgang und allgemein Dein Leben mit MS sprechen möchtest, um anderen Betroffenen damit Mut zu machen, dann kontaktiere uns unbedingt, z. B. über Facebook und Instagram. Wir freuen uns auf Dich!

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