Wie hast Du die erste Zeit nach Deiner Diagnose in Erinnerung?
Ich wollte es nicht wahrhaben und habe das durchgemacht, was alle Patienten, die ich bis dato in meiner Mitbetreuung versorgt habe, schon durchlitten hatten: Verleugnung, Verdrängung, Verdruss und Verzweiflung. Und es war schwer für mich, auf einmal eine Doppelrolle einnehmen zu müssen: Die der Behandlerin und die der Patientin. Mir hat geholfen, dass ich durch meinen beruflichen Hintergrund rasch eine für mich sehr gute neurologische und fachliche Betreuung finden konnte.
Du bist nicht nur selbst MS-Betroffene, sondern seit vielen Jahren auch als MS-Nurse tätig. Welche Symptome treten Deiner beruflichen Erfahrung nach häufig auf?
Die Symptome sind so vielfältig wie ein Blumenstrauß. Die Krankheit wird oft „Die Krankheit der 1.000 Gesichter“ genannt und genauso verhält es sich auch mit den Symptomen.
Die Symptome, die mir gegenüber beruflich am häufigsten genannt werden, beziehen sich tatsächlich in erster Linie auf die Psyche: vegetative Symptomatik, das heißt Symptome, die in Zusammenhang mit dem vegetativen Nervensystem stehen. Das ist der Teil unseres Nervensystems, der keiner willkürlichen bzw. bewussten Kontrolle durch uns unterliegt, z. B. unsere Reflexe. Bei diesen vegetativen Symptomen handelt es sich um plötzlich auftretende Reizbarkeit, depressive Verstimmungen, Ängste, Panik, Aufmerksamkeitsstörungen, das Problem „wie in einer Bahnhofshalle zu leben“ und Dinge nicht mehr fokussieren zu können. Einen sehr hohen Stellenwert nimmt hier die Fatigue ein.
Der nächste Punkt sind tatsächlich Schmerzen. Eine langlebige Meinung ist, dass man bei MS keine Schmerzen habe. Meiner eigenen Erfahrung nach muss ich hier aber sagen: Das ist nicht so. Hier gibt es die „3 Plagegeister“, wie ich sie nenne, über die mir meine Patienten am meisten berichten. Zum einen sind das Dys- und Parästhesien, die ätzenden Empfindungsstörungen, für die oft kein direkter Grund gefunden werden kann. Dann gibt es noch die Allodynien. Hier klagen Patienten über gesteigerte Schmerzempfindlichkeit. Diese wird oft durch unschädliche Reize, wie leichte Berührungen auf der Haut oder Wasser, das beim Duschen über den Körper läuft, ausgelöst. Und zum Schluss noch die Hyperpathie bzw. Hyperalgesie. Das ist die gesteigerte bzw. übermäßige Schmerzempfindlichkeit gegenüber jeglichen Reizen mit absolut niedriger Reizschwelle, also Toleranz. Dabei wird etwas, das bislang kein Problem war, unüberwindbar.
Wie erlebst Du das Thema vegetative Symptome in Deinen Patientengesprächen? Und welche Tipps gibt es hierzu im Alltag?
Viele Patienten berichten bereits früh im Krankheitsverlauf von vegetativen Symptomen. Wichtig finde ich hier immer, dass man jeden Patienten an dieser Stelle als Individuum betrachtet. Nicht jedem liegt z. B. autogenes Training, Yoga oder Meditation. Das ist ein Punkt, der besonders MS-Nurses in ihrer Funktion als aktive Zuhörer wichtig macht. Denn man muss ehrlicherweise sagen, dass Ärzte sich, insbesondere aufgrund der Bürokratie, im Wesentlichen auf die Behandlung konzentrieren müssen. MS-Nurses sind genau für solche Gespräche geschult und können hier eine wichtige Hilfestellung für Patienten und Ärzte leisten. Das gehört zu einer umfassenden Patientenbetreuung dazu, gewissermaßen über den Tellerrand zu schauen. Die MS-Nurse hat Zeit zum aktiven Zuhören und Nachfragen und kann die gesammelten Informationen an den Arzt weitergeben. Das führt zu einer Win-Win-Situation, wie ich finde.
Wie erlebst Du den Umgang mit sogenannten „Tabu-Themen“, wie Sexual-, Blasen- oder Darmstörungen? Wie oft treten diese auf und wie kannst Du als MS-Nurse Deine Patienten bei diesen Themen unterstützen?
Der Begriff „Tabu“ kommt aus dem Englischen und steht für „Unausgesprochenes“ bzw. etwas, das anzusprechen kulturell verpönt oder verboten ist. So stellen sich solche Tabu-Themen auch für den Patienten dar. Erstmal soll im besten Fall niemand merken, dass man "so" eine Krankheit hat und dann kann man über peinliche Dinge oder etwas, das einen beschämen könnte, ja sowieso gar nicht sprechen. In manchen Kulturen dürfen insbesondere Frauen bis heute gewisse Dinge gar nicht aussprechen.
Es findet aber auch Veränderung statt. Ein Arzt ist zwar immer noch eine Respektsperson in Weiß, aber heute betrachtet ein Arzt den Patienten nicht mehr „von oben herab“. Im Gegenteil, hier wird meist versucht, einander auf Augenhöhe zu begegnen. So ist das auch mit Tabu-Themen. Bis vor ein paar Jahren war es noch absolut tabuisiert, von Urin, Problemen beim Stuhlgang oder sexueller Inappetenz, also fehlendem sexuellen Verlangen in der Partnerschaft, zu sprechen. Heutzutage erlebe ich Patienten im Gespräch sehr offen. Solche Gespräche kann man professionell und empathisch führen. Das Gegenüber merkt dann schon, ob es einem selbst peinlich ist oder nicht. Wenn sich ein Patient bei einem persönlichen Gespräch doch zu sehr geniert, kann man auch zu einer telefonischen Beratung in einem Servicecenter raten.
Vor allem Frauen fällt es oft leichter, am Telefon über solche Themen zu sprechen. Meiner Erfahrung nach brauchen Männer nur ein Stichwort, dann reden sie ganz normal und offen darüber. Und erwähnen auch Stolz beim nächsten Kontakt, dass die empfohlenen Pantys für den Mann (Anmerkung der Redaktion: Dabei handelt es sich um Einlagen bzw. saugfähige Slips für Männer, die bei Blasenschwäche eingesetzt werden können.) gut funktioniert haben und sie deswegen wieder viel freier unterwegs waren.
Wichtig ist immer, dass die Dokumentation in der Akte vollständig ist und der Patient weiß, dass das Besprochene auch an den behandelnden Arzt gegeben wurde. Denn das darf absolut nicht vergessen werden: Wir sind keine Ärzte. Wir hören zu, tragen Infos zusammen und beraten aus unserer Erfahrung heraus bzw. erst nach Rücksprache mit dem behandelnden Arzt, für den die gesammelten Informationen eine wertvolle Hilfe sind, um Ableitungen zu treffen.