Hinter dem Schreibtisch hervor und auf den „MS-Patientenstuhl“

Nadine Greber ist verheiratet, Mutter von elfjährigen Zwillingen und wurde 2008 mit MS diagnostiziert. Ihr Beruf und ihre Ausbildung haben ihr enorm bei der Bewältigung der Erkrankung geholfen, denn sie ist nicht nur selbst von MS betroffen, sondern arbeitet seit 1997 in einer neurologisch psychiatrischen Facharztpraxis und ist seitdem auch in Kontakt mit MS-Patienten. Anfang 2000 legte sie, mit einer Ausbildung zur MS-Nurse, ihren Schwerpunkt auf die Betreuung und Beratung von MS-Patienten. Diesen Schwerpunkt hat sie später durch ein Studium zur Heilpraktikerin für Psychotherapie noch erweitert.

Wie hast Du die erste Zeit nach Deiner Diagnose in Erinnerung?

Ich wollte es nicht wahrhaben und habe das durchgemacht, was alle Patienten, die ich bis dato in meiner Mitbetreuung versorgt habe, schon durchlitten hatten: Verleugnung, Verdrängung, Verdruss und Verzweiflung. Und es war schwer für mich, auf einmal eine Doppelrolle einnehmen zu müssen: Die der Behandlerin und die der Patientin. Mir hat geholfen, dass ich durch meinen beruflichen Hintergrund rasch eine für mich sehr gute neurologische und fachliche Betreuung finden konnte.

Du bist nicht nur selbst MS-Betroffene, sondern seit vielen Jahren auch als MS-Nurse tätig. Welche Symptome treten Deiner beruflichen Erfahrung nach häufig auf?

Die Symptome sind so vielfältig wie ein Blumenstrauß. Die Krankheit wird oft „Die Krankheit der 1.000 Gesichter“ genannt und genauso verhält es sich auch mit den Symptomen.

Die Symptome, die mir gegenüber beruflich am häufigsten genannt werden, beziehen sich tatsächlich in erster Linie auf die Psyche: vegetative Symptomatik, das heißt Symptome, die in Zusammenhang mit dem vegetativen Nervensystem stehen. Das ist der Teil unseres Nervensystems, der keiner willkürlichen bzw. bewussten Kontrolle durch uns unterliegt, z. B. unsere Reflexe. Bei diesen vegetativen Symptomen handelt es sich um plötzlich auftretende Reizbarkeit, depressive Verstimmungen, Ängste, Panik, Aufmerksamkeitsstörungen, das Problem „wie in einer Bahnhofshalle zu leben“ und Dinge nicht mehr fokussieren zu können. Einen sehr hohen Stellenwert nimmt hier die Fatigue ein.

Der nächste Punkt sind tatsächlich Schmerzen. Eine langlebige Meinung ist, dass man bei MS keine Schmerzen habe. Meiner eigenen Erfahrung nach muss ich hier aber sagen: Das ist nicht so. Hier gibt es die „3 Plagegeister“, wie ich sie nenne, über die mir meine Patienten am meisten berichten. Zum einen sind das Dys- und Parästhesien, die ätzenden Empfindungsstörungen, für die oft kein direkter Grund gefunden werden kann. Dann gibt es noch die Allodynien. Hier klagen Patienten über gesteigerte Schmerzempfindlichkeit. Diese wird oft durch unschädliche Reize, wie leichte Berührungen auf der Haut oder Wasser, das beim Duschen über den Körper läuft, ausgelöst. Und zum Schluss noch die Hyperpathie bzw. Hyperalgesie. Das ist die gesteigerte bzw. übermäßige Schmerzempfindlichkeit gegenüber jeglichen Reizen mit absolut niedriger Reizschwelle, also Toleranz. Dabei wird etwas, das bislang kein Problem war, unüberwindbar.

Wie erlebst Du das Thema vegetative Symptome in Deinen Patientengesprächen? Und welche Tipps gibt es hierzu im Alltag?

Viele Patienten berichten bereits früh im Krankheitsverlauf von vegetativen Symptomen. Wichtig finde ich hier immer, dass man jeden Patienten an dieser Stelle als Individuum betrachtet. Nicht jedem liegt z. B. autogenes Training, Yoga oder Meditation. Das ist ein Punkt, der besonders MS-Nurses in ihrer Funktion als aktive Zuhörer wichtig macht. Denn man muss ehrlicherweise sagen, dass Ärzte sich, insbesondere aufgrund der Bürokratie, im Wesentlichen auf die Behandlung konzentrieren müssen. MS-Nurses sind genau für solche Gespräche geschult und können hier eine wichtige Hilfestellung für Patienten und Ärzte leisten. Das gehört zu einer umfassenden Patientenbetreuung dazu, gewissermaßen über den Tellerrand zu schauen. Die MS-Nurse hat Zeit zum aktiven Zuhören und Nachfragen und kann die gesammelten Informationen an den Arzt weitergeben. Das führt zu einer Win-Win-Situation, wie ich finde.

Wie erlebst Du den Umgang mit sogenannten „Tabu-Themen“, wie Sexual-, Blasen- oder Darmstörungen? Wie oft treten diese auf und wie kannst Du als MS-Nurse Deine Patienten bei diesen Themen unterstützen?

Der Begriff „Tabu“ kommt aus dem Englischen und steht für „Unausgesprochenes“ bzw. etwas, das anzusprechen kulturell verpönt oder verboten ist. So stellen sich solche Tabu-Themen auch für den Patienten dar. Erstmal soll im besten Fall niemand merken, dass man "so" eine Krankheit hat und dann kann man über peinliche Dinge oder etwas, das einen beschämen könnte, ja sowieso gar nicht sprechen. In manchen Kulturen dürfen insbesondere Frauen bis heute gewisse Dinge gar nicht aussprechen.

Es findet aber auch Veränderung statt. Ein Arzt ist zwar immer noch eine Respektsperson in Weiß, aber heute betrachtet ein Arzt den Patienten nicht mehr „von oben herab“. Im Gegenteil, hier wird meist versucht, einander auf Augenhöhe zu begegnen. So ist das auch mit Tabu-Themen. Bis vor ein paar Jahren war es noch absolut tabuisiert, von Urin, Problemen beim Stuhlgang oder sexueller Inappetenz, also fehlendem sexuellen Verlangen in der Partnerschaft, zu sprechen. Heutzutage erlebe ich Patienten im Gespräch sehr offen. Solche Gespräche kann man professionell und empathisch führen. Das Gegenüber merkt dann schon, ob es einem selbst peinlich ist oder nicht. Wenn sich ein Patient bei einem persönlichen Gespräch doch zu sehr geniert, kann man auch zu einer telefonischen Beratung in einem Servicecenter raten.

Vor allem Frauen fällt es oft leichter, am Telefon über solche Themen zu sprechen. Meiner Erfahrung nach brauchen Männer nur ein Stichwort, dann reden sie ganz normal und offen darüber. Und erwähnen auch Stolz beim nächsten Kontakt, dass die empfohlenen Pantys für den Mann (Anmerkung der Redaktion: Dabei handelt es sich um Einlagen bzw. saugfähige Slips für Männer, die bei Blasenschwäche eingesetzt werden können.) gut funktioniert haben und sie deswegen wieder viel freier unterwegs waren.

Wichtig ist immer, dass die Dokumentation in der Akte vollständig ist und der Patient weiß, dass das Besprochene auch an den behandelnden Arzt gegeben wurde. Denn das darf absolut nicht vergessen werden: Wir sind keine Ärzte. Wir hören zu, tragen Infos zusammen und beraten aus unserer Erfahrung heraus bzw. erst nach Rücksprache mit dem behandelnden Arzt, für den die gesammelten Informationen eine wertvolle Hilfe sind, um Ableitungen zu treffen.

Der MS-Fatigue entschlossen entgegentreten mit dem A-Team

Ein häufig berichtetes Symptom ist die Fatigue. Wie stark schränkt sie den Alltag Deiner Patienten ein und welchen Einfluss hat sie auf die Lebensqualität? Wie sollten Betroffene mit ihr umgehen?

Meines Erachtens ist Fatigue eines der großen Themen der MS. Und neben den Schmerzen auch eines der Symptome, dass die Lebensqualität am meisten belastet. Ich empfehle den Patienten, ihr entschlossen entgegenzutreten, mit dem A-Team. Das besteht für mich aus den 4 As:

  • Ausgewogenheit: Das heiĂźt Sport nicht bis zur völligen Erschöpfung, sondern maĂźvoll einsetzen und die Ernährung gezielt anpassen.
  • Achtsamkeit: Auf die innere Stimme hören, auf kleine Dinge achten, die GlĂĽck bringen, und GlĂĽcksgefĂĽhle als Seelenheiler wahrnehmen.
  • Aktivität: Gymnastik, Kraftsport, Tai-Chi, Yoga, Radfahren, Reiten, Wassergymnastik, Schwimmen… Hauptsache Bewegung!
  • Akzeptanz: Hinnehmen, dass man Dinge vielleicht nicht mehr wie frĂĽher zu den gleichen 100 % abliefern kann, sondern, dass sich die 100 % nur verschieben, aber dadurch absolut nicht weniger wertvoll sind.

Das alles im Einklang bringt meiner Meinung nach den besten Effekt auf die Fatigue. Man kann eben nicht immer nur ĂĽberall eine Pille nehmen oder mit irgendwelchen Wundermitteln behandeln. Manchmal muss man auch das groĂźe Ganze sehen.

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Psyche und Multiple Sklerose: Es gibt mehr Hilfe als man glaubt

Du hast erzählt, dass bei Deinen Patienten die Psyche eine große Rolle spielt. Häufig fällt in diesem Zusammenhang auch der Begriff „Unsichtbare Symptome“. Wie belastend sind diese für Deine MS-Patienten und wie gehen sie beispielsweise mit Antriebslosigkeit und Depression um?

Die Psyche ist in Zusammenhang mit der Multiplen Sklerose lange verdrängt worden. Mittlerweile ist klar, dass es einen großen Unterschied macht, ob jemand zufrieden, mit guter Lebensqualität und dem für ihn passenden Medikament durchs Leben geht. Oder ob Betroffene etwas aufgedrückt bekommen und weiter mit gesenktem Blick langsam durchs Leben schleichen. Bei solchen Problemen hilft es, Patienten aktiv auf eine Verhaltenstherapie mit einem Schwerpunkt zum Umgang und Leben mit chronischen Erkrankungen hinzuweisen. Es ist ein nicht zu vernachlässigender „Lebens-Hammer“ zu akzeptieren, dass man chronisch krank ist und es auch nicht mehr weggeht. Wir sollten hinhören und Vorschläge machen und nicht warten, bis ein Patient sich aufgibt, weil er in der Bewältigung rund um die Diagnose MS alleingelassen wird. Und damit meine ich nicht mit Medikation, sondern den Umstand, Patienten nicht seelisch verkümmern zu lassen.

Verdacht auf Depressionen oder andere psychische Beschwerden

Wenn Du den Verdacht hast, von Depressionen oder anderen psychischen Beschwerden betroffen zu sein, informiere Dich am besten bei Deinem Arzt oder einem Psychotherapeuten über professionelle Behandlungsmöglichkeiten. In Notfällen gibt es Krisendienste, die Du zur akuten Hilfe in Anspruch nehmen kannst:


  • Der Sozialpsychiatrische Dienst bietet in vielen Städten Hilfe fĂĽr Menschen mit psychischen Erkrankungen und deren Angehörige an. Die Kontaktdaten zu Deinem nächstgelegenen Sozialpsychiatrischen Dienst erhältst Du vom Gesundheitsamt oder ĂĽber eine Internetsuche „Sozialpsychiatrischer Dienst + Dein Wohnort“.
  • Das Info-Telefon Depression 0800 – 33 44 533 (Mo, Di, Do 13 – 17 Uhr; Mi, Fr 08:30 – 12:30 Uhr) ist ein Angebot der Deutschen Depressionshilfe und bietet krankheitsbezogene Informationen sowie Hinweise zu Anlaufstellen.

Wie gehst Du selbst als MS-Betroffene mit unsichtbaren Symptomen um?

Ich sitze, stehe und laufe jeden Tag in einem „Ameisenhaufen“. Ich habe auch bereits Medikamente und andere Dinge wie Wassertreten probiert, ohne signifikanten Erfolg. Hier hilft dann Akzeptanz: Es ist so, wie es ist. Manche Dinge kommen und gehen, andere Dinge bleiben und begleiten mich. Wie die Multiple Sklerose. Ein wichtiges Fazit für mich ist: Hilfe annehmen und nicht aufgeben! Ja, es kommen immer wieder schlechte Zeiten, da hilft es, die Dinge auszusprechen, was einen bedrückt. Auch wenn der Neurologe vielleicht einmal wenig Zeit hat, ruft das Servicecenter an oder meldet Euch bei Eurer MS-Nurse oder trefft Euch mit Eurem Stammtisch.

Gemeinsam sind wir, Patienten, Freunde, Angehörige und Behandler, stark und lassen uns nicht unterkriegen. Diese Kraft und Stärke sollten wir alle nutzen. Daher hat meine Selbsthilfegruppe auch ganz bewusst das Motto: MegaStark!

Es gibt Dinge, da muss man nicht allein durch!

Danke, Nadine, dass Du Deine Sicht als MS-Patientin und MS-Nurse mit uns geteilt hast!

Wenn auch Du über Deine Erlebnisse, Deine Erfahrungen, Deinen Umgang und allgemein Dein Leben mit MS sprechen möchtest, um anderen Betroffenen damit Mut zu machen, dann kontaktiere uns unbedingt, z. B. über Facebook und Instagram. Wir freuen uns auf Dich.

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