Unterstützung für Angehörige von MS Betroffenen

Der Umgang mit einer chronischen und unheilbaren Erkrankung, wie der MS, ist nicht nur für Patienten eine Herausforderung. Auch das soziale Umfeld – wie Angehörige, Freunde und Arbeitskollegen – ist betroffen. Deshalb haben wir die Gruppe dieser sogenannten Mitbetroffenen in unserem vorangegangenen Artikel „Die wichtige Rolle der Angehörigen bei MS“ in den Fokus gestellt und verschiedene Hilfestellungen gegeben, wie Mitbetroffene sich selbst und die MS-Patienten im Umgang mit der MS unterstützen können.

Es gibt aber einen sehr wichtigen Punkt, den wir bisher nur knapp erwähnt haben, der aber so wichtig ist, dass er einen eigenen Artikel verdient: Die Kommunikation mit Ärzten und anderen medizinischen Fachpersonen. Insbesondere geht es dabei darum, wie Ihr als Mitbetroffene Patienten bei Arztgesprächen und im klinischen Alltag effektiv unterstützen könnt. Um diese und andere Fragen für Euch zu klären, haben wir mit Experten eines großen Medizinischen Versorgungszentrums (MVZ) gesprochen.

Mit etwa 1.700 MS-Patienten ist das mind MVZ in Stuttgart eines der größten Versorgungszentren in Deutschland und betreut Patienten von der Diagnosestellung bis hin zur individuellen Therapie. Es vereint ein multidisziplinäres Team, u. a. aus Neurologen, Psychotherapeuten, Psychiatern und MS-Nurses, die neben MS-Patienten auch Patienten mit anderen neurologischen Erkrankungen, wie z. B. Demenz, Schlaganfall, Migräne, Parkinson und Depressionen, betreuen. Darüber hinaus ist das mind MVZ seit vielen Jahren ein etabliertes Studienzentrum, bei dem Betroffene die Möglichkeit erhalten, an klinischen Studien teilzunehmen.

Die folgenden Antworten haben wir von den Experten auf unsere Fragen bekommen.

Beratung ist auch für Angehörige von MS Betroffenen wichtig

Wie oft beobachten Sie, dass Angehörige mit zu einem Diagnose-/Therapiegespräch kommen?

Grundsätzlich ist die Antwort: Viel zu selten. Der „typische“ Patient, der zum ersten Mal zu uns kommt, hat bereits verschiedene und schwierige Stationen in seiner MS-Krankengeschichte hinter sich. In der Regel heißt das, dass die Person aufgrund von Erstsymptomen in einem Krankenhaus vorstellig, dort zahlreichen Untersuchungen unterzogen, mit Kortison behandelt und mit den Worten „Suchen Sie sich einen Neurologen“ entlassen wurde.

Während dieses Prozesses erfahren die Patienten üblicherweise wenig weitere Unterstützung. Dabei ist das gerade im Zeitraum direkt nach der Diagnose so wichtig. Die Betroffenen sind gestresst, denn sie haben gerade eine lebensverändernde Nachricht erhalten und werden sich selbst und „Dr. Google“ überlassen. Oder sie werden direkt vom Krankenhaus in eine Reha überwiesen. Das kann unter Umständen wenig hilfreich für Neudiagnostizierte sein und Fragen über die eigene Zukunft und den weiteren Krankheitsverlauf aufwerfen, gerade wenn sie kurz nach der Diagnose bereits auf sehr schwer betroffene MS-Patienten treffen.

Wenn sich die Patienten dann bei uns melden, versuchen wir möglichst zeitnah Ersttermine herauszugeben, in der Regel 1–2 Wochen nach dem ersten Telefonat. Aus Erfahrung wissen wir, dass die Patienten aufgrund der Stresssituation und Reizüberflutung etwa 10 % des Gesprächs wirklich bewusst aufnehmen. Nach dem Ersttermin sind also meist weitere, individuelle Besuche notwendig.

Bei den Erstgesprächen planen wir auch deutlich mehr Zeit als üblich ein. Wir lernen die Patienten richtig kennen. Ein wichtiger Teil dieser Gespräche ist hierbei auch die Erläuterung der Erkrankung sowie eine große Anamneseerhebung. Der Befund wird überprüft, die Verlaufsform der MS wird bestimmt und eventuell fehlende Diagnostik (z. B. Blutwerte oder MRT-Aufnahmen) wird erhoben.

Im Anschluss daran werden die Patienten zu einem Folgegespräch eingeladen, um ausführlich über die Therapiemöglichkeiten zu sprechen. Manchmal kann dann noch ein weiterer Termin zur Einweisung der Therapie notwendig sein.

Generell sind Angehörige vor allem bei den Therapie-/und Einweisungsgesprächen sehr wichtig und können dem Patienten unterstützend zur Seite stehen. Das sollte auch bei der Terminfindung berücksichtigt werden. Wir wissen natürlich, dass das oftmals leichter gesagt als getan ist. Nicht alle Angehörigen können sich für Arzttermine, die sie nicht direkt betreffen, frei nehmen oder es liegen organisatorische Probleme vor, wie die Regelung der Kinderbetreuung. Hier kann man aber an gemeinsamen Lösungen arbeiten.

Unsere MS-Nurses unterstützen zusätzlich zu den bereits erwähnten Gesprächen in vielerlei Hinsicht: Nach der Diagnosestellung können sie Betroffene und Mitbetroffene psychisch auffangen. Denn nicht nur der Patient, sondern auch viele Angehörige müssen die Diagnose zuerst einmal verarbeiten. Auch bei der Einweisung in die Therapie oder bei individuellen Fragen stehen unsere Nurses den Patienten zur Seite. Hier können Themen wie Ernährung, Sport, Leistungsfähigkeit im Job, Urlaubsplanung oder auch der Kinderwunsch besprochen werden. Aber auch schambehaftete Themen wie Fragen zum Sexualleben oder Blasen-/Darmfunktionsstörungen können mit den Nurses in vertrauensvoller Umgebung besprochen werden.

Wenn auch unerwünscht: Die MS ist leider unheilbar. Als chronische Erkrankung gehört die MS zum Leben des Patienten dazu. Auch das soziale Umfeld kann oftmals davon betroffen sein und das Familienleben beeinflusst werden. Deshalb ist es wichtig, dass sich jeder so gut es geht mit der Erkrankung vertraut macht. Und das geht am besten, wenn alle von Anfang an mit einbezogen und informiert sind.

Hilfe von und für Angehörige hängt vom Typ ab

Welche Typen an Angehörigen begegnen Ihnen hier?

Aus unserem Praxisalltag kennen wir viele verschiedene Angehörigentypen:

  1. Die Entspannten: Je nach Ausprägung kann es sein, dass sie die MS zu sehr auf die leichte Schulter zu nehmen: „Dann gibt es einfach nochmal Kortison und dann ist alles wieder in Ordnung.“ Auf der anderen Seite können sie auch eine positive und beruhigende Wirkung auf die Patienten haben, z. B. insbesondere bei der Besprechung der routinemäßigen MRT-Untersuchungsergebnisse, wenn keine Befundänderung vorhanden ist.
  2. Die Empathischen: Sie nehmen die Sorgen der Patienten ernst und können sich gut in die Situation einfühlen. Dadurch sind sie besonders wertvoll in Situationen, in denen Patienten ein offenes Ohr oder einen Ratschlag benötigen. Aber auch hier unter der Voraussetzung, dass sie gut über die Erkrankung informiert sind.
  3. Die Fürsorglichen: Dieser Typ ist den empathischen Angehörigen sehr ähnlich. Der Unterschied hier besteht hauptsächlich darin, dass fürsorgliche Angehörige sich in der Regel aktiver am Krankheitsmanagement beteiligen. Sie gehen von sich aus auf Patienten zu und bieten ihre Hilfe an, anstatt darauf zu warten, dass sie darum gebeten werden. Damit sind diese Menschen auf jeden Fall eine große Unterstützung für alle Betroffenen in ihrem Umfeld. Schädlich wird ihr Einfluss nur dann, wenn ihre Mühen in die Überfürsorglichkeit übergehen. Kein Patient will bevormundet werden und Selbstständigkeit ist ein essenzieller Faktor in der Krankengeschichte eines jeden MS-Betroffenen.
  4. Die Intellektuellen: Angehörige dieses Typs können eine fantastische Stütze für Patienten sein. Solche Menschen informieren sich in der Regel sehr genau zu allen Aspekten der Erkrankung, beteiligen sich aktiv an Gesprächen und können dadurch Patienten mit Rat und Tat zur Seite stehen. Der einzige Nachteil, der hier entstehen kann, ist, dass das eigene Wissen überschätzt und die Beratung durch das Fachpersonal nicht ernst genug genommen werden könnte. Aber solche Fälle sind eher selten und bei aufgeschlossenen Menschen, mit denen man offen reden kann, auch kein Problem.
  5. Die Verständnislosen: Sie haben leider kein Verständnis für die Erkrankung und entsprechend fehlt hier das Einfühlungsvermögen für die Patienten. Meist wollen diese Angehörigen auch kein „krankes“ Familienmitglied oder keinen „kranken“ Partner haben und es kommen Fragen auf wie: „Wann ist die MS denn vorbei?“
  6. Die Zusammenbrechenden: Unter diesen Typ fallen oft Mütter, die dann sogar noch mehr als die Patienten selbst getröstet werden müssen.
  7. Die Ungläubigen bzw. Zweifelnden: Sie hinterfragen gerne alles, wie z. B. Befunde und die Diagnose an sich.
  8. Die Verdrängenden: Hier hören wir oft den Satz: „Ich will das alles gar nicht hören!“. Diese Angehörigen wollen sich genauso wenig mit der Erkrankung beschäftigen wie die Verständnislosen.
  9. Die Besorgten: Dieser Typ hat leider einen entmutigenden Einfluss auf die Patienten, denn sie geben der Krankheit einen größeren Raum, als es sein müsste, indem sie zum Beispiel die MS in den Vordergrund rücken: „Meine Frau ist krank.“
  10. Die Abwesenden: Ähnlich wie Typ 5 und 8 wollen sich diese Angehörigen nicht mit der Erkrankung auseinandersetzen. Sie gehen jedoch anders damit um. Hier herrscht das Motto: „Das ist ja die Erkrankung meines Partners.“ Entsprechend werden die Patienten bei den Terminen und Entscheidungen allein gelassen.

Warum ist es wichtig, dass Angehörige aktiv mit in den Behandlungsprozess eingebunden sind?

Dafür gibt es so viele Gründe. An erster Stelle steht natürlich die Kenntnis um die Erkrankung selbst und den bereits angedeuteten Alltag mit der MS. Nur, wenn ich als Angehöriger oder Freund über z. B. die unsichtbaren Symptome Bescheid weiß, kann ich Verständnis und Akzeptanz gegenüber dem Patienten aufbringen. Das ist das A und O. Um ein Beispiel zu nennen: Wir haben eine Patientin betreut, deren Mann ihr vorgeworfen hat, einfach nur faul zu sein, weil sie nicht mehr die gewohnte Leistung erbringen konnte. In solchen Fällen muss Aufklärungsarbeit geleistet werden. Diese können wir aber nur erbringen, wenn sich die Patienten und ihre Angehörigen an uns wenden, d. h., wenn Angehörige aktiv mit einbezogen werden.

Verständnisvolle und engagierte Angehörige können bei Arztgesprächen mehr für die Betroffenen tun, als sie selbst oft glauben:

  • Sie können eine seelische Unterstützung sein und die Patienten vor, während und nach den Terminen beruhigen und aufbauen.
  • Sie können aktiv an den Gesprächen teilnehmen, zuhören, notieren und evtl. Fragen stellen, die der Patient gerade nicht im Blick hat.
  • Sie können sich im Gesprächsverlauf selbst über die MS informieren und für sich wichtige Fragen direkt mit einer Fachperson klären. So erfahren Mitbetroffene u. a. genaue Angaben zu Symptomen und können Krankheitsaktivität und Schubanzeichen besser einschätzen, um entsprechend handeln zu können.

Mit dem richtigen Vorwissen können sie auch entsprechend planen, z. B. bei der Freizeitgestaltung. Dieses Mitdenken ist auch für die Therapietreue und damit die Gesundheit des Patienten sehr wichtig und zeigt den eigenen Respekt gegenüber der betroffenen Person. Die Herausforderung hier ist, dass man die Unterstützung nicht übertreibt und den Patienten in einem vernünftigen Umfang fördert, anstatt ihnen alles abzunehmen.

MS muss ins gemeinsame Leben integriert werden. Es bringt nichts, dagegen zu kämpfen.

Das Entscheidende bei Beratung und Hilfe durch Angehörige: Fingerspitzengefühl, Zuhören, (Selbst-)Fürsorge

Was möchten Sie den Angehörigen noch mit auf den Weg geben?

MS ist eine ernstzunehmende und chronische Erkrankung mit „tausend Gesichtern“ – jede MS ist anders. Mit diesem Wissen sollten Angehörige auch verantwortungsvoll im Alltag mit den Betroffenen umgehen. Denn die Patienten wünschen sich meistens nur eines: wie „ein ganz normaler Mensch“ behandelt werden. Dafür ist Fingerspitzengefühl notwendig. Die Grundvoraussetzung ist aber auch hier, sich mit der MS und der Person aktiv auseinanderzusetzen.

Eine Übung, die dabei helfen könnte, ist das sogenannte „aktive Zuhören“. Dabei verabredet man sich z. B. zu einem gemeinsamen Abendessen, ohne Telefon, Radio, TV oder andere Störfaktoren, und spricht darüber, was man die Woche über gefühlt bzw. empfunden hat. Ein Beispiel: „Ich habe diese Woche Angst gehabt, dass meine MS fortschreitet.“ Die Ich-Perspektive ist dabei wichtig und, dass der Gesprächspartner einen nicht unterbrechen darf.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Selbstfürsorge. Oft schützen Angehörige die MS-Patienten, nehmen sich zurück und wollen sie nicht belasten. Aber es ist wichtig, dass auch Mitbetroffene ein Ventil haben, wo sie über ihre Gefühle, Ängste und Probleme sprechen können. Und so simpel es klingt, spezielle Stammtische oder Informationsabende für betroffene Angehörige sind eine gute Möglichkeit, um sich auszutauschen. Wir haben früher selbst welche angeboten, bei denen Angehörige, die in ähnlichen Situationen waren, von uns zusammengebracht wurden. Daraus sind viele Freundschaften entstanden. Leider können wir das aus Zeitgründen nicht mehr umsetzen, aber es gibt viele andere Angebote dieser Art. Und natürlich gibt es auch Möglichkeiten für Angehörige, die lieber anonym bleiben wollen. Gerade dank des digitalen Angebots können Betroffene so ohne die Nennung ihres Namens mit einem Pseudonym auf Online-Austauschplattformen von seriösen Anbietern (z. B. die Webseite der DMSG oder auch Webseiten von Pharmaherstellern) teilnehmen.

Abschließend sei noch gesagt, dass Zeit an der frischen Luft, Sport und Bewegung gemeinsam mit unseren Angehörigen eine echte Motivation sein kann. Der soziale Kontakt kann Balsam für die Seele sein und den Alltag bereichern.

Wir hoffen, dass die Informationen hilfreich waren. Wenn Ihr mehr davon benötigt, fragt unbedingt Euren Arzt oder MS-Nurse. Und jetzt seid Ihr dran. Hat Euch etwas gefehlt oder möchtet Ihr über ein Thema noch mehr erfahren?

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Go care – Go for life!


DE-NONNI-00620 10/2023