Adams Erfahrung mit dem langen Weg zur MS Diagnose

Du hast einen langen und komplexen Krankheitsweg hinter Dir. Wie sah dieser genau aus?

Im Grunde beginnt meine Geschichte in der Zeit, als ich 13 Jahre alt war. Ich war schon immer ein sportliches Kind und habe besonders Fußballspielen über alles geliebt. Meine schönste Kindheitserinnerung ist der Sommer, in dem ich nur zum Essen vom Bolzplatz nach Hause kam. Umso schlimmer traf es mich, als meine Eltern bei mir Gehstörungen bemerkt haben.

Wir waren damals im Urlaub und meinen Eltern ist aufgefallen, dass meine Fußstellung nicht normal ist. Es folgte ein langer Weg von Arzt zu Arzt. Ich erinnere mich nicht mehr an die genauen Namen der Untersuchungen, aber ich weiß noch, dass viele davon mit extremen Schmerzen verbunden waren. Am Ende erhielt ich die Diagnose in einer neurologischen Klinik: HMSN Typ 1 (Anmerkung der Redaktion: Hereditäre Motorisch-Sensible Neuropathie Typ 1 (HMSN1) ist eine neurologische Erkrankung, die die Nervenleitgeschwindigkeit beeinträchtigt und zu motorischen und sensiblen Ausfällen führt). Das war der erste Schock, den ich in meinen jungen Jahren erlebt hatte.

Ich habe mich lange dagegen gewehrt, aber nach rund 2 Jahren wurden die Symptome so schlimm, dass ich das Fußballspielen komplett aufgeben musste. Aufgrund meines ausgeprägten Hohlfußes wurde auch mein Gang eher storchenartig – was wiederum zu vielsagenden Blicken meiner Mitschüler geführt hat. Mit anderen Worten: Ich konnte meine Erkrankung nicht mehr verstecken.

Der zweite Schock begann mit meinen Abiturprüfungen. Während dieser mentalen Belastung bemerkte ich zum ersten Mal Fatigue und kognitive Einschränkungen bei mir. Das wiederholte sich in den Prüfungsphasen meiner Ausbildung. Ärztliche Untersuchungen besagten, dass die Symptome von meiner HMSN und der gesteigerten Belastung kämen. Nach dem Abfall des Stresslevels wurde es aber nicht besser. Im Gegenteil: Ich hatte meinen ersten schweren Schub, mit anhaltenden Doppelbildern, Gleichgewichtsverlust und Missempfindungen in der linken Körperhälfte. Bei weiteren haus- und augenärztlichen Untersuchungen wurde dann der Verdacht auf MS gestellt. Und nach einer Lumbalpunktion bestätigt. Danach hatte ich noch fünf weitere Schübe, bis eine Therapie gefunden wurde, die mir gut hilft. Aber ich werde wohl nie wissen, wie lange die MS wirklich schon da war und durch die Neuropathie nicht bemerkt wurde.

Was eine Ernährungsumstellung für Adam gebracht hat

Wie geht es Dir aktuell?

Ich komme gut zurecht. Bis zu diesem Punkt war es aber ein langer Prozess. Nicht nur bis zur Einstellung einer passenden Therapie, sondern auch im Umgang mit den Symptomen. Zum Beispiel hatte ich, in Verbindung mit meinen motorischen Einschränkungen, Darmprobleme. Das habe ich für mich mit einer Ernährungsumstellung sehr gut in den Griff bekommen. Ich habe meinen Fleischkonsum stark reduziert und esse weniger Fertigprodukte. Wenn ich es übertreibe und beispielsweise zu viel gelatinehaltige Süßigkeiten esse, dann merke ich die Auswirkungen auf meine Verdauung sehr schnell. Ich muss dazu sagen, dass ich keine Ernährungsberatung diesbezüglich hatte, sondern mir die Erkenntnisse durch Ausprobieren selbst nach und nach erarbeitet habe.

Im Grunde erhalte ich von meinem Umfeld, also meiner Familie und meinen Freunden, immer eine sehr gute und verständnisvolle Unterstützung. Die Ernährung war aber einer der Punkte, bei dem ich etwas angeeckt bin. Bei uns sahen die Wochenenden eher traditionell aus: Sonntagmorgen ging es zur Kirche und danach gab es den fetten Braten. Als ich das nicht mehr mitmachen wollte, war die Begeisterung eher verhalten. Aber mir tat und tut es nach wie vor gut.

Jetzt vor Kurzem war ich in der Reha und habe dort gelernt, dass es mir sogar noch besser geht, wenn ich komplett auf Fleisch verzichte. Das versuche ich jetzt auch zuhause umzusetzen. Es fällt mir durchaus schwer, weil ich schon sehr gerne Fleisch esse, aber ich muss eben auch das Nutzen-Risiko-Verhältnis im Auge behalten.

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Adams Umgang mit der psychischen Belastung durch die MS

Du hast von Fatigue und kognitiven Einschränkungen gesprochen. Wie gehst Du mit diesen Symptomen um?

Anfänglich habe ich sie nicht wahrgenommen bzw. wollte sie nicht wahrnehmen. Mal war ein zu wildes Wochenende der Grund oder das Stresslevel war zu hoch. Wirklich geholfen hat mir die Muskelentspannung nach Jacobson (Anmerkung der Redaktion: Dabei handelt es sich um eine wissenschaftlich fundierte und leicht zu lernende Entspannungstechnik mit abwechselnder An- und Entspannung der Muskulatur). Diese habe ich 2013, ebenfalls bei einer Reha, kennengelernt. Die Übungen helfen mir, abzuschalten. Generell bin ich allen Therapieoptionen gegenüber sehr offen, die mir bei meinen Erkrankungen helfen können. Gerade bei den unterstützenden Therapien gibt es ja einiges, worauf man zurückgreifen kann und wovon ich auch zahlreiche mitgemacht habe.

Und auch, wenn es banal klingt: Mir helfen Pausen. Ich bin immer noch sehr aktiv. Ich arbeite Vollzeit, engagiere mich ehrenamtlich an drei verschiedenen Stellen, u. a. als Schwerbehindertenvertreter in meinem Betrieb, und ich bin Hundebesitzer. Parallel gehe ich zweimal die Woche zur Ergo- und Physiotherapie. Daher sind Pausen unglaublich wichtig fĂĽr mich. Selbst wenn es nur ein Glas Wasser ist, fĂĽr das ich mir dann 20 Minuten Zeit nehme.

Du hast erwähnt, dass Deine beiden Diagnosen Schockmomente in Deinem Leben waren. Wie hast Du die Kraft gefunden, sie zu verarbeiten?

Mein Vater hatte einen großen Anteil daran. Er hat mir aufgezeigt, dass es immer weitergeht. Ja, ich könnte jetzt auf der Couch liegen und dort versauern, aber dadurch wird meine Situation ja nicht besser.

Trotzdem litt und leide ich unter Depressionen und Verdrängung. Deswegen befinde ich mich in psychologischer Behandlung und nehme Medikamente. Das hat mir geholfen, meine negative Denkweise unter Kontrolle zu bekommen. Denn dadurch wurde die Situation für mich nur noch schlimmer und ich bin in eine Negativspirale geraten, die ich selbst nur schwer verlassen konnte. Da war dann alles außerhalb des Bettes bzw. Sofas negativ und schlecht. Dank meiner Behandlung ist es nach und nach besser geworden. Ich kann meine Gedanken jetzt besser auf das Wesentliche fokussieren und steigere mich nicht mehr so sehr in fiktionale Probleme hinein.

Verdacht auf Depressionen oder anderen psychischen Beschwerden

Wenn Du den Verdacht hast, von Depressionen oder anderen psychischen Beschwerden betroffen zu sein, informiere Dich am besten bei Deinem Arzt oder einem Psychotherapeuten über professionelle Behandlungsmöglichkeiten. In Notfällen gibt es Krisendienste, die Du zur akuten Hilfe in Anspruch nehmen kannst:


  • Der Sozialpsychiatrische Dienst bietet in vielen Städten Hilfe fĂĽr Menschen mit psychischen Erkrankungen und deren Angehörige an. Die Kontaktdaten zu Deinem nächstgelegenen Sozialpsychiatrischen Dienst erhältst Du vom Gesundheitsamt oder ĂĽber eine Internetsuche „Sozialpsychiatrischer Dienst + Dein Wohnort“.
  • Das Info-Telefon Depression 0800 – 33 44 533 (Mo, Di, Do 13 – 17 Uhr; Mi, Fr 08:30 – 12:30 Uhr) ist ein Angebot der Deutschen Depressionshilfe und bietet krankheitsbezogene Informationen sowie Hinweise zu Anlaufstellen.

Wie bewahrst Du Dir diese positive Lebenseinstellung?

Mir hilft es, anderen zu helfen. Mein Vater ist ein ĂĽberaus hilfsbereiter Mensch und ich habe es von ihm gelernt. Das zieht sich durch mein gesamtes Leben. Von der Berufswahl als Integrationsfachkraft bis ins Private. Und ich habe damit bisher keine schlechten Erfahrungen gemacht.

Ich bin aber auch kein Heiliger. Natürlich kann ich enttäuscht sein oder mich ausgenutzt fühlen. Aber das hält nicht lange an. Das Positive hat die Tendenz, zu einem zurückzukehren. Ich habe Freunde, die aus ihrem Land fliehen mussten und denen meine Frau und ich regelmäßig Spenden zukommen lassen. Im Gegenzug helfen sie uns bei Dingen, die ich nicht mehr leisten kann, wie dem Tragen schwerer Sachen. Und es macht mich glücklich, solche Momente der gegenseitigen Hilfe wahrzunehmen.

Ganz besonders möchte ich in dem Zusammenhang auch meiner Frau danken. Wir sind seit dem 04.09.2021 verheiratet und unterstützen einander bedingungslos. Gemeinsam mit ihr habe ich das Gefühl, alles schaffen zu können.

Zusammenhalt und UnterstĂĽtzung sind fĂĽr Adam bei MS das A und O

Was wĂĽrdest Du anderen Betroffenen raten?

Arbeitet mit Euren Liebsten zusammen. Wenn es Euch hilft, setzt Euch in der großen Runde zusammen und entwickelt gemeinsam einen Plan, wie Ihr Eure Möglichkeiten immer wieder neu austesten und ausschöpfen könnt. Das ist weniger frustrierend, als auf eigene Faust rauszugehen und ohne Unterstützung an Dingen zu scheitern, die in dem Moment vielleicht doch zu viel waren.

Und setzt Euch vor allem realistische Ziele. Egal, wie klein sie erscheinen mögen. Ich bin letztens eine Treppe hochgelaufen, ohne mich am Handlauf festzuhalten. Das ist für jemanden ohne Gehprobleme nicht mal der Rede wert. Für mich dagegen war es, als hätte ich den Mount Everest bestiegen. Es war fast schon weltverändernd und hat mich motiviert, weiterzumachen.

Danke, Adam, dass Du Deine inspirierende Geschichte mit uns geteilt hast!

Wenn auch Du über Deine Erlebnisse, Deine Erfahrungen, Deinen Umgang und allgemein Dein Leben mit MS sprechen möchtest, um anderen Betroffenen damit Mut zu machen, dann kontaktiere uns unbedingt, z. B. über Facebook und Instagram. Wir freuen uns auf Dich.

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