Ob in Sachen Angst, Wissen, oder Persönlichkeit – der Umgang mit der MS ist individuell

Viele MS-Betroffene beschäftigt die Frage, wann und wie sie ihr Umfeld am besten über ihre Erkrankung informieren. Wir haben uns zu dieser und anderen Fragen mit Herrn Dr. med. Frank Romanowski unterhalten. Dr. Romanowski ist niedergelassener Neurologe in Barsinghausen in der Nähe von Hannover. Gleichzeitig ist er Autor von Ratgebern und Sachbüchern sowie Mitverleger des Klassenbuch Verlages. Im Interview spricht er mit uns über verschiedene Patiententypen, über das Thema „Outing“ sowie über die Sichtbarkeit von MS in unserer Gesellschaft.

Herr Dr. Romanowski, welche Patiententypen begegnen Ihnen in Ihrem Praxisalltag?

In der Praxis begegnen einem Neurologen die unterschiedlichsten Menschen und natürlich auch Persönlichkeitstypen. Jeder Mensch hat eigene Erfahrungen gemacht, auch Erfahrungen, um mit Problemen umzugehen – wobei die Situation, mit einer Krankheit umgehen zu müssen, doch bei fast jedem Menschen Angst auslöst. So gesehen kommen alle Patiententypen in die Praxis. Von ängstlichen Menschen bis hin zu Persönlichkeiten, die es gewohnt sind, Situationen zu kontrollieren. Das sind teils Menschen mit offenem Charakter, die selbst Fragen stellen. Oder aber Patienten, die eher zurückhaltend reagieren und erst einmal abwarten.

Das Verhalten der Patienten ist meistens von Unsicherheit bestimmt, auf die ein eher kommunikativer Mensch mit Fragen reagiert, während jemand, der zurückhaltender ist, erst einmal zuhört.

Meistens ist es schon im ersten Gespräch möglich, durch die Beantwortung von Fragen auf die Ängste einzugehen – Fragen, die sich durch die neue Situation, mit einer Krankheit umgehen zu müssen, stellen. In meinen Augen stellt Wissen eine gewisse Möglichkeit dar, die Situation zumindest zu überblicken, wenn Unsicherheit besteht. Neben dem Gefühl der Angst ist also das „Wissen-Wollen“ ein Aspekt, der die meisten Patienten betrifft und das weitere Handeln bestimmt.

Was bedeutet das fĂĽr Ihre Arzt-Patienten-Kommunikation?

Für die Kommunikation in der Praxis bedeutet das, dass man zunächst einmal Vertrauen schaffen muss und als Neurologe sieht, wo sich der Patient gerade befindet. Wichtig ist es, erst einmal Ängste abzubauen, indem man darauf eingeht, in welcher Situation jemand ist, der gerade die Diagnose einer Multiplen Sklerose gestellt bekommen hat.

Vertrauen zu schaffen gelingt am besten durch eine offene Kommunikation, in der über alles gesprochen werden kann. Es gibt unter Psychotherapeuten den Satz „Patienten dort abzuholen, wo sie sind“ – das klingt meistens sehr abstrakt, beinhaltet aber nichts anderes, als den Gesprächspartner erst einmal mit seinen Ängsten und Bedürfnissen verstehen zu wollen.

Das Outing bei MS – wem sagt man wann was?

Viele Patienten beschäftigt das Thema „Outing“. Was raten Sie Ihren Patienten, wann und wie sie ihr privates, aber auch berufliches Umfeld über ihre MS-Erkrankung am besten informieren?

Das Thema Outing, also Mut zur Öffnung in der eigenen Umgebung, ist natürlich immer Thema. Vielleicht aber erst, nachdem die Diagnose und alles, was damit zusammenhängt, geklärt ist. Die Fragen tauchen meistens dann auf, wenn eine Therapie etabliert ist. Denn erst, wenn der Patient sich selbst über den weiteren Behandlungsverlauf im Klaren ist und seine eigenen Fragen beantwortet sind, ist er in der Lage, die Fragen anderer zu beantworten.

So ist es zunächst einmal Aufgabe des Arztes, den Patienten so umfassend zu informieren, dass er anderen Antworten geben kann, aber natürlich auch selbst alle Antworten auf seine eigenen Fragen erhalten hat. Das Vertrauensverhältnis sollte so sein, dass alle Fragen gestellt werden können, um dann als Patient selbst anderen Antworten geben zu können.

Wir weisen bei uns in der Praxis darauf hin, dass es weitere Informationsquellen in den sozialen Medien gibt. Besonders hilfreich sind hier MS-Foren, in denen auch Patienten zu Wort kommen. Das Wissen darum, dass andere Menschen gleiche oder ähnliche Erfahrungen machen, ist etwas sehr Wichtiges und beruhigt. Das kann der Arzt nur bedingt vermitteln, weil er in der Rolle des Experten und des Behandlers dem Patienten gegenübertritt. Das Vertrauen des Patienten in und an den Arzt bezieht sich in erster Linie ja auf medizinische Fragen wie Therapie oder Diagnostik sowie sozialmedizinische Fragen. Was das eigene soziale Umfeld der Patienten betrifft, sind die Erfahrungen anderer Patienten hilfreich, besonders wenn es um den Umgang mit MS in der Öffentlichkeit geht.

Allerdings raten wir in der Praxis dazu, mit der Öffnung Schritt für Schritt vorzugehen, erst im eigenen Umfeld, dann vielleicht am Arbeitsplatz gegenüber vertrauten Personen. Auch die Beantragung eines Schwerbehindertenausweises kann eine gewisse Sicherheit am Arbeitsplatz geben. Wenn Patienten schrittweise vorgehen und erst im engeren Umfeld eine Öffnung erzielen, stellt sich unserer Erfahrung nach dann meistens heraus, dass der vertrauensvolle Umgang zum Abbau von Ängsten und zu mehr Sicherheit im Umgang mit der Diagnose führt.

Das Outing bei MS und die Folgen – Erfahrungen von Patienten meist positiv

Was berichten Ihnen Ihre Patienten, was sich für sie geändert hat, nachdem sie ihr Umfeld über die Diagnose MS unterrichtet haben?

Patienten berichten uns meistens von positiven Erfahrungen. Wenn die Angst, sich zu öffnen, erst einmal überwunden ist und eine Öffnung gegenüber anderen stattgefunden hat, macht sich Erleichterung breit. Der Zuspruch der anderen führt oft dazu, dass sich Betroffene stärker fühlen – eben dadurch, dass sie Rückhalt erfahren.

Negative Erfahrungen wie Ablehnung oder Reserviertheit kommen selten vor. In einem Gespräch lässt sich dann meistens klären, dass diese Ablehnung auch vorher schon bestanden hat. Die MS ist dabei oft gar nicht das Problem, sondern lediglich der thematische Auslöser, um Kommunikationsprobleme oder zwischenmenschliche Schwierigkeiten zu Tage treten zu lassen, die im Vorfeld bereits bestanden hatten.

Die Erfahrungen unserer Patienten sind jedoch meistens positiv. Das Überwinden von Angst gibt Selbstvertrauen und Stärke. Das Umfeld kann erst positiv auf die MS reagieren, nachdem sie kein Geheimnis mehr ist – für Betroffene ist dann auch keine weitere „Geheimnistuerei“ nötig, was als Erleichterung wahrgenommen wird. Das Verstecken zuvor machte nur unsicher.

In unserer Praxis haben wir eine Befragung durchgeführt, in der wir wissen wollten, wie unsere Patienten mit der Diagnose MS umgehen, ob sie Freunden und Angehörigen ihre Diagnose mitgeteilt haben und wann. Und ob sich die Beziehung zu den Angehörigen und Freunden verändert hat. Hier die Antworten:

Fast alle Patienten haben ihren Angehörigen oder Freunden kurz nach der Diagnosestellung ihre MS-Erkrankung mitgeteilt. Nur ein Patient hat einige Wochen mit seinem MS-Outing gewartet. 86% der Patienten war es wichtig, dass die Angehörigen oder Freunde von dieser Diagnose wissen. Einzelne schlechte Erfahrungen waren bald vergessen, und bei den allermeisten Patienten bleibt die Wahrnehmung der Unterstützung der Menschen, die einem wohlwollend gegenübertreten.

56% der befragten Patienten haben darüber hinaus die Diagnose ihrem Arbeitgeber mitgeteilt. 12% haben ihre Diagnose auf Social Media Plattformen (Facebook, Instagram) öffentlich gemacht. Das MS-Outing bei Selbsthilfegruppen liegt bei 16% der Befragten. Genauso viele haben sich keiner dieser drei Gruppen anvertraut.

Offener Umgang mit MS-Patienten in der Gesellschaft – Sichtbarkeit baut Vorurteile ab

Wie bewerten Sie die Sichtbarkeit von MS in unserer Gesellschaft?

MS in der Gesellschaft sichtbar zu machen ist in unseren Augen enorm wichtig – damit Patienten sich von vornherein trauen, über sich und ihre Diagnose zu sprechen, in dem festen Wissen, dass sie nicht alleine damit sind.

Voraussetzung dafür aber ist, dass in allen Bereichen der Gesellschaft Krankheit im Allgemeinen und MS im Besonderen sichtbar ist. Nur so wird es mit der Zeit immer selbstverständlicher, dass niemand perfekt ist und es jeden betreffen kann. Solidarität im Umgang mit Krankheit ist in der Öffentlichkeit daher gefordert.

Es gibt noch viele Bereiche, in denen Vorurteile herrschen und in denen es nicht selbstverständlich ist, dass Solidarität und Hilfsbereitschaft auf eine Öffnung folgen. Daher ist es notwendig, weiter an Sichtbarmachung zu arbeiten.

Was wäre hier Ihr Wunsch für die Zukunft?

Für die Zukunft ist unser Wunsch, dass die Diagnose MS und damit auch Menschen, die mit MS leben, in der Gesellschaft noch sichtbarer werden. Und dass diese Präsenz selbstverständlicher wird, um Vorurteile weiter abzubauen. Vorurteile stellen immer noch Hemmnisse für Patienten dar, sich zu öffnen, sich in die Öffentlichkeit zu trauen und sich selbst mehr Öffentlichkeit zuzutrauen.

Mehr Sichtbarkeit von MS und mehr Offenheit führen letztendlich zu mehr Teilhabe am gesamten öffentlichen Leben. Und der Wunsch für die Zukunft ist daher ganz klar, dass es einen vorurteilsfreien Umgang mit der Diagnose MS gibt, dass Patienten sich wahrgenommen fühlen und nicht auf Ablehnung stoßen. Es ist zu wünschen, dass die Offenheit einzelner, aber auch der Gesellschaft zum Abbau von Angst und damit zu mehr Lebenszufriedenheit führt.

Herr Dr. Romanowski, vielen Dank für dieses Gespräch!

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