Wandern mit Multipler Sklerose – Tinas große Stütze
Du hast erwähnt, dass Dir der Sport geholfen hat, Deine Depression zu überwinden. Welchen Herausforderungen hast Du Dich hier gestellt und gibt es Leistungen, auf die Du besonders stolz bist?
Ja, da gab es gleich mehrere.
Eines Tages kam jemand bei der Arbeit auf mich zu und sagte, dass bei uns Teams für die Challenge Roth aufgestellt werden (Anmerkung der Redaktion: Die Challenge Roth ist der weltweit größte Wettkampf im Bereich der Triathlon-Langdistanz und setzt sich zusammen aus 3,9 km Schwimmen, 180 km Radfahren und 42 km Marathonlauf.). Eine Schwimmerin und eine Läuferin wären schon gefunden, aber eine Radfahrerin fehle noch. Meine erste Antwort darauf war: „Seid ihr verrückt? Ich fahr doch keine 180 km Fahrrad!“ Trotzdem habe ich mir meine Gedanken dazu gemacht, eine Nacht drüber geschlafen und am nächsten Tag doch zugesagt. Während des Trainings war ich schon nach 30 km vollkommen fertig und habe mich gefragt, wie ich so doof sein konnte, um zu so einer Tour zuzusagen. Aber ich hatte zugesagt, daher blieb mir nichts anderes übrig, wie eine Verrückte zu trainieren.
Juli 2008 war es dann soweit. Sämtliche Bedenken waren weg. Es war so ein großartiges Gefühl einfach nur vor Ort zu sein, in dieser Atmosphäre Rennrad zu fahren. Da war mir alles egal: Die Krankheit oder ob ich vom Rad falle. Es hat geregnet an dem Tag, es war eiskalt, ich habe gefroren, aber ich war so glücklich, einfach fahren zu können. Am Ende bin ich die 180 km wirklich gefahren und habe mir damit bewiesen, dass ich es kann. Ich war so begeistert, dass ich mit meinen Arbeitskollegen 2009 und 2010 wieder angetreten bin. Zwischen damals und jetzt liegen natürlich ein paar Jahre und ich bin nicht mehr ganz so fit. Aber aktuell habe ich mein E-Bike, das mir auch richtig guttut.
Ein paar Jahre später habe ich das Wandern für mich entdeckt. Ich habe ein Buch über den Jakobsweg gelesen und habe seitdem immer wieder mit dem Gedanken gespielt, ebenfalls diesen Weg zu gehen. 2018, nach meiner Scheidung, habe ich mich dann wirklich dazu durchgerungen. Mein Jakobsweg (Anmerkung der Redaktion: Es gibt in Europa mehrere Jakobswege, die Pilger laufen können. Der Bekannteste ist der Camino Francés, der sich über 800 km erstreckt. Allen Wegen gemeinsam ist, dass sie in Santiago de Compostela enden.) war insgesamt 450 km lang. Insgesamt, weil ich ihn leider in Etappen laufen musste. Denn bei meiner ersten Pilgerreise habe ich mir 60 km vor Santiago den Fuß gebrochen. Das ist zwar schon rund auf der Hälfte der Strecke passiert, aber ich habe die Schmerzen auf wunde Füße und meine Gesundheit geschoben. In meinem Kopf war es vollkommen normal geworden, dass ich Schmerzen aufgrund meiner körperlichen Verfassung in Kauf nehmen muss. So habe ich nicht bemerkt, dass ich mich doch ernsthaft verletzt hatte. Trotzdem konnte ich eben irgendwann nicht mehr und war entsetzlich enttäuscht.
Letzten Endes hat mir ein Priester dabei geholfen, mit dieser Niederlage Frieden zu schließen. Bei den erwähnten 60 km vor Santiago bin ich in eine Kathedrale gegangen und bin mit dem Priester ins Gespräch gekommen. Dabei habe ich erwähnt, dass es mich sehr mitnimmt, dass ich die Reise nicht zu Ende bringen kann. Er hat mir dann wieder vor Augen geführt, dass es letzten Endes eben nicht um dieses Stück Papier, die Compostela (Anmerkung der Redaktion: Pilgerurkunde, die in Santiago bei Beendigung des Jakobswegs ausgestellt wird.), geht. Die Erfahrungen, die ich während dieser Reise gemacht und auch die Strecke, die ich bereits zurückgelegt hatte, kann mir keiner nehmen.
Auch wenn ich mit dieser Leistung zufrieden war und bin, hat mir mein Ehrgeiz trotzdem keine Ruhe gelassen. Also habe ich 2022 die letzten km und damit meinen Jakobsweg beendet. Ich bin nach Spanien geflogen, habe mich mit dem Taxi auf den 100 km Stein zurücksetzen lassen und bin ab da nach Santiago gelaufen. Auf dieser Reise war auch mein emotionalster Punkt auf meinem gesamten Jakobsweg: Der erste Blick auf Santiago. Das war von einem Berg aus, den viele auf ihrem Jakobsweg passieren müssen. Dort kann man die unterschiedlichsten Reaktionen der Pilger erleben. Manche lachen oder schreien, andere gehen aber auch ungerührt weiter. Ich bin dort vor Glück in Tränen ausgebrochen und habe geheult wie ein kleines Kind. Bestimmt eine Stunde lang. Glücklicherweise lassen die anderen Pilger einen dann in Ruhe. Eben weil man es kennt, dass sich die Emotionen dort entladen.
Ich muss zugeben, dass ich sehr stolz auf diese Leistung bin. Denn am Ende bin ich mit über 50 Jahren trotz aller körperlichen und psychischen Widrigkeiten, mit einem 10 kg schweren Rucksack und streckenweise mit einem gebrochenen Fuß, insgesamt 550 km durch Spanien gelaufen und habe mich von meinem Ziel nicht abbringen lassen. So bin ich am Ende doch noch zu meiner Compostela gekommen. Und habe mir selbst bewiesen, dass ich gegen mich selbst gewinnen kann.
Was war das Verrückteste, was Du auf Deiner Reise erlebt hast?
Das war eher ein Schreckmoment, der zuerst ziemlich gruselig war. Ich lief allein durch den Wald, es war noch recht dunkel und etwas neblig. Da kommt mir mitten im Wald ein Mann in Badelatschen und Bademantel entgegen. Dass ich mich erschrocken habe, ist noch milde ausgedrückt. Ich hatte panische Angst in dem Moment. Erst als ich weiter gelaufen bin, habe ich seinen Wohnwagen gesehen. Im Nachhinein glaube ich, dass es ihn mindestens genauso erschreckt hatte und der arme Mann eigentlich nur seiner Morgenroutine nachgehen wollte. Stattdessen kam ihm auch aus dem Nichts eine fremde Frau entgegen. Die Begegnung hatte einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen.
Gibt es neben dem Sport noch weitere Kraftquellen, die Dir helfen, Deine Lebenslust beizubehalten?
In der Zeit nach der MS-Diagnose war es nur der Sport. Wahrscheinlich sogar viel zu viel Sport. Teilweise habe ich Suchtverhalten bei mir bemerkt.
Aktuell ist das, was mir am besten hilft, die Natur. Ich bin unwahrscheinlich gerne in den Bergen, den Wäldern, höre den Vögeln beim Singen zu. Mir reicht es auch schon, auf einer Mooswiese zu sitzen und die Atmosphäre um mich herum wahrzunehmen. Einfach draußen sein! Die Natur gibt mir Halt. Das ist auch der Grund, aus dem ich so gerne Wandern gehe. Weil ich dann eben draußen bin. Es hilft mir auch, meinen inneren Ausgleich wiederzufinden, wenn ich mich z. B. aufrege. Meistens bin ich dabei allein und genieße es auch. Aber wenn es sich zeitlich einrichten lässt, bin ich auch gerne mit meinem Partner unterwegs. Glücklicherweise teilen wir diese Leidenschaft.
Eine andere Kraftquelle ist mein verlässlicher und liebevoller Begleiter seit 16 Jahren: Mein Kater. Ich genieße jede Sekunde mit ihm. Er hilft mir schon allein durch seine Anwesenheit, Ruhe zu finden.