Multiple Sklerose – Eine Erkrankung mit zahlreichen Symptomen
Michael Ernst ist Facharzt für Neurologie, Psychiatrie sowie Psychotherapie und seit 2006 niedergelassener Neurologe in einer neurologisch-psychiatrischen Gemeinschaftspraxis in Sinsheim nahe Heidelberg. Er arbeitet gemeinsam mit seinem Team kontinuierlich an der Verbesserung der ambulanten Versorgung der MS. In ihrer Schwerpunktpraxis werden mit Hilfe von MS-Nurses etwa 300 MS-Patienten pro Quartal versorgt. Sowohl die Diagnostik als auch Therapien erfolgen entsprechend der Empfehlungen von DGN und KKNMS. Wichtig ist dabei auch ein funktionierendes Netzwerk mit Spezialisten, wie Radiologen, Urologen, Augenärzten, Neuropsychologen und vielen anderen Fachrichtungen in der Umgebung.
In unserem heutigen MS-Klartext beantwortet Herr Ernst uns Fragen zu den Symptomen der MS. Wir freuen uns auf das Gespräch mit ihm.
Körperliche Symptome der MS
MS nennt man auch die Krankheit der 1000 Gesichter. Dadurch kommen Sie entsprechend mit verschiedensten MS Symptomen in Kontakt. Hierzu zählen körperliche, vegetative und psychischen Beschwerden. Starten wir zunächst mit den sichtbaren, den körperlichen Symptomen der MS. Was versteht man darunter?
Michael Ernst:
Tatsächlich zeigt die MS ein weites Feld an Symptomen, was gerade auch die Erstdiagnose häufig erschwert. Grundsätzlich ist die MS eine meist in Schüben auftretende, chronische Entzündung des zentralen Nervensystems (ZNS). Die Stelle, an der der entzündliche Herd, wahrscheinlich zufällig, auftritt, bestimmt die daraus folgende Symptomatik des Schubes. Häufige Symptome und deren Ursachen bzw. Hintergründe sind:
- Die Spastik bezeichnet einen übermäßig erhöhten Muskeltonus in bestimmten Bereichen. Diese Störung kann dauerhaft sein, schwanken aber auch plötzlich „einschießen“. Es kann zu Schmerzen kommen und, wenn die Beine betroffen sind, kann das Gehen beeinträchtigt sein. Häufig wird die Spastik getriggert durch äußere Reize wie Kälte oder körperliche/psychische Belastung. Nachts können Schlafstörungen auftreten. Häufig sitzt die Ursache in einem Herd im Kleinhirn oder im Rückenmark.
- Ataxie bezeichnet eine Unsicherheit bei koordinierten Bewegungen. So gibt es eine Ataxie beim Greifen, d. h. man greift am Ziel vorbei oder auch eine Gang- und Standataxie, die dazu führt, dass man „wie besoffen“ läuft. Hier liegt die Schädigung im Kleinhirn oder auch spinal, also im Rückenmark. Durch Störungen der Sensibilität an Armen oder Beinen kann es zu einer „sensiblen Ataxie“ kommen, bei der die Informationen über die Stellung bzw. Lage des Körpers fehlen und dadurch eine Unsicherheit auftritt. Als Tremor bezeichnet man das Zittern eines Körperteils. Er kommt zustande durch unkoordinierte, wiederholte Kontraktionen von Muskeln. Es treten verschiedenste Formen auf, die man nach Erscheinen, Ausmaß, Frequenz unterscheidet. Auch hier liegt die Ursache meist im Kleinhirn, aber auch im Hirnstamm oder spinal.
- Bei Sehstörungen unterscheidet man Störungen der Sehkraft (Visus), die durch eine Schädigung des Nervus opticus (Sehnerv), der zum ZNS gehört, zustande kommen und Störungen des Hirnstammes, die z. B. zu Augenzittern und Doppelbildern führen. Bei der Sehnervenentzündung, die ein sehr häufiges Symptom der MS darstellt, kommt es zu Visusminderung (schlechtem Sehen), Gesichtsfeldausfällen (Teile des Bildes fehlen) oder auch Fehler in der Farbentsättigung (das Bild ist „schwarz-weiß“), meist auf einem Auge. Es sollte raschestmöglich eine Behandlung, meist mit hochdosiertem Cortison, eingeleitet werden, um bleibende Schäden zu minimieren.
- Kribbeln, auch als „Paraesthesien“ bezeichnet, entsteht durch Schädigung sensibler Bahnen im Rückenmark oder auch im Gehirn. Ein bekanntes Phänomen ist das „Lhermitt’sche Zeichen“: bei Beugung des Kopfes nach vorne kommt es zu Elektrisieren (wie Strom) in der Wirbelsäule. Ursache ist eine Schädigung des Rückenmarks im Bereich des Halses. Es kann aber auch zu Paraesthesien im Bereich des gesamten Körpers kommen, je nach dem Ort der Schädigung.
Oftmals wird auch von Muskelzuckungen gesprochen. Wie sehen Sie das im Kontext der MS?
Michael Ernst: Ein „Muskelzucken“ beschreibt eigentlich unwillkürliche Aktionen von Muskeln, die durch Schädigung peripherer Nerven hervorgerufen werden können. Die MS befällt das Zentrale Nervensystem. Es kann aber zu Zuckungen der Muskulatur im Rahmen von Spastik („Einschießen“) oder auch bei bestimmten Formen des Tremors kommen. Abzugrenzen sind andere Ursachen, die zu einer Übererregbarkeit der Muskulatur führen: z. B. Schilddrüsenüberfunktion, Elektrolytstörungen, Medikamenteneffekte, psychische Anspannung und viele andere.
Vegetative Symptome der MS
Inwiefern kann das vegetative System bei MS gestört sein, also z.B. in Form von Schlafstörungen, Nervosität oder Herz-Kreislauf-Beschwerden?
Michael Ernst:
Bedingt durch das „bunte“ Schädigungsmuster bei der MS können auch Zentren im Gehirn und im übrigen ZNS betroffen sein, die zu vegetativen Störungen führen. Gemeint sind hiermit Körperfunktionen, die normalerweise ohne unser Zutun ablaufen, wie z. B. Atmung, Schlaf, Kreislauf etc.. Diese können wir nicht beeinflussen. Häufig kommt es bei MS-Betroffenen zu Schmerzen, die nicht hinreichend durch Schübe oder bestimmte Schädigungen im ZNS erklärt werden können. Eine klassische Domäne autonomer Funktionsstörung sind Blasen- und Sexualfunktion (Anm. der Redaktion: Blasenschwäche im Verlauf der Erkrankung bei bis zu 80% der Patienten. Sexualstörungen bei bis zu 80% der Frauen und bis zu 90% der Männer im Verlauf der Krankheit). Diese Bereiche sind oft schambehaftet und werden meist nicht aktiv von den Patienten benannt.
Psychische Symptome der MS
Viele MS Patienten leiden zudem auch an psychischen Symptomen (teilweise unsichtbare Symptome der MS genannt). Könnten Sie uns die Problematik dieser Beschwerden wie Gefühlschwankungen, Depressionen oder Antriebslosigkeit bei MS näher erläutern?
Michael Ernst:
Bekannt ist, dass chronische Erkrankungen, die das Hirn betreffen, auch ein erhöhtes Risiko für psychische Störungen verursachen. Hierdurch kann es zu Stimmungsschwankungen, erhöhter Reizbarkeit, depressiven Verstimmungen, aber auch euphorischen Zuständen mit unangepasst gehobener Stimmung kommen. Hiervon zu unterscheiden ist die häufig auftretende Fatigue: hierunter versteht man eine rasche Erschöpfbarkeit mit geminderter körperlicher und psychischer Leistungsfähigkeit bzw. Belastbarkeit. Häufig müssen nach nur leichter Anstrengung Pausen eingelegt werden und die Betroffenen werden von starker Müdigkeit überfallen. Es können auch Gedächtnis und Konzentrationsfähigkeit gestört sein. Die Motivation, Dinge zu erledigen kann gemindert sein und es kann zu Antriebsschwäche und Lustlosigkeit kommen. Oft werden diese Beschwerden nicht ernst genommen oder nicht erfragt. Wichtig ist aber, dass diese Symptome erkannt werden, um ggf. eine gezielte („symptomatische“) Behandlung einleiten zu können.
Tipps zum Umgang mit Multiple Sklerose-Symptomen
Welche Tipps geben Sie Ihren Patienten im Umgang mit den körperlichen, vegetativen oder psychischen Beschwerden? Und welche Rolle spielt hierbei die MS-Therapie?
Micheal Ernst:
Wichtig für Patienten ist es, ALLE Symptome, auch wenn sie scheinbar erstmal nichts mit der MS zu tun haben, zu benennen. Für den MS-Spezialisten ist es wichtig, ein umfassendes Bild der Erkrankung zu erhalten, um mit Medikamenten und Empfehlungen reagieren zu können. Ich halte den regelmäßigen Einsatz von Fragebögen zur Lebensqualität und zur Erfassung häufig nicht erkannter Beschwerden für ausgesprochen sinnvoll. Dies kann im Rahmen einer qualifizierten Behandlung auch durch eine spezialisierte MS-Nurse erfolgen. Besonders wichtig ist die umfassende Aufklärung („Neuroedukation“) des Betroffenen über die Erkrankung und deren Folgen. Da die ärztlichen Maßnahmen bisher begrenzt sind, sind Verhaltensänderungen, die die Auswirkungen der Erkrankung günstig beeinflussen, von hoher Wichtigkeit. Bei Fatigue ist ein regelmäßiger Ausdauersport sehr hilfreich und führt häufig auch zu Besserung motorischer Symptome. Bei Depressionen kommen Medikamente und vor allem auch Psychotherapie in Frage. Auch kann die Zunahme verschiedener Begleitsymptome Anlass sein, noch einmal eine genaue Diagnostik durchzuführen bzw. über einen Wechsel der bestehenden medikamentösen MS-Therapie nachzudenken.
DE-NONNI-00380 (02/23)