Daniels Weg zur Diagnose MS beginnt mit Schwindel

Wie kam es zu Deiner Diagnose?

Ich habe meine Diagnose 2006 bekommen. Es hat damit begonnen, dass mir extrem schwindelig war. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie ich im Bett lag und sich auf einmal alles gedreht hat, als hätte ich die Nacht vorher durchgefeiert. Das war natürlich nicht der Fall. Aber es war so extrem, dass ich mich mehrmals übergeben musste.

Am nächsten Tag bin ich als erstes zum Hausarzt, der eine Magen-Darm-Verstimmung diagnostizierte. Allerdings ging es dann so weit, dass ich alle drei Tage zu einem anderen Arzt gefahren bin, immer mit dem Eimer auf dem Schoß. Das ging so lange, bis ich zwei Wochen später zu einem HNO-Arzt kam, der die Symptome erkannte und mich direkt an einen Neurologen weiterverwies.

Durch glücklichen Zufall war das einer, der in einer auf MS spezialisierten Praxis tätig war und mich schnell zur weiteren Untersuchung ins Krankenhaus überwiesen hat mit Verdacht auf MS. Dort wurde die Diagnose dann bestätigt. Die Diagnose habe ich dann charmant mit den Worten bekommen: „Kennen Sie MS?“.

Ich hatte tatsächlich schon mal was davon gehört. Meine Mutter hat Anfang der 90er Jahre als Volkshochschullehrerin mit MS-Betroffenen zu tun gehabt und mir von der Erkrankung erzählt. Zu der Zeit gab es nicht viel, womit man die Erkrankung behandeln konnte, und bei vielen Schülern ging der Weg leider in die Behinderung. Daher war mein erster Gedanke nach der Diagnose: „Das war’s!“

Was genau ging da in Dir vor?

Aufgrund der Erfahrungen, die ich aus Erzählungen hatte und die weniger aufbauenden Worte meines damaligen Zimmernachbarn im Krankenhaus, ging für mich ein riesiges Loch auf. Ich bin erst kurz vorher Vater geworden, wir hatten gerade unser Haus gekauft und obendrauf hatte ich gerade eine Fortbildung zu meinem aktuellen Beruf begonnen. Meine ersten Reaktionen waren also Existenzängste: „Ich kann nicht mehr arbeiten, meine Rechnungen bezahlen, verliere das Haus, werde zum Sozialfall.“ Selbst wenn wir das Haus hätten verkaufen müssen, hätten wir zu der Zeit noch Restschulden behalten. Zu den Existenzängsten kamen auch die Ängste um meine zukünftige Gesundheit dazu. Ich war überzeugt, dass ich unausweichlich irgendwann im Rollstuhl landen würde. Gleichzeitig habe ich auch so gut wie nichts mehr gemacht oder unternommen, weil mir gesagt wurde, ich solle mich schonen. Das alles hat meine Gesundheit nicht gerade unterstützt. Gefühlt war ich jeden Monat erkältet, mindestens eine Woche lang. Mandelentzündungen am laufenden Band. So hatte ich mir mein Leben und das Leben meiner Familie beim besten Willen nicht vorgestellt. Es war niederschmetternd. Heute würde ich sagen, dass ich nach der Diagnose in eine Depression gerutscht bin.

Dabei wurde ich von meinem Umfeld gut aufgefangen. Mein damaliger Chef, mittlerweile Geschäftspartner, hat super reagiert und mir volle Rückendeckung gegeben. Dadurch konnte ich unter anderem meine Fortbildung zu Ende machen. Was mir am Ende meine aktuelle Selbstständigkeit ermöglicht hat, über die ich sehr froh bin. Die Wendung wurde letzten Endes durch meinen besten Freund und damaligen Arbeitskollegen eingeläutet. Er hat mich damals gefragt, ob ich ihn nicht mal mit ins Fitnessstudio begleiten möchte. Ab da ging es dann für mich aufwärts.

Hilfe bei Depressionen

Wenn Du den Verdacht hast von Depressionen oder anderen psychischen Beschwerden betroffen zu sein, informiere Dich am besten bei Deinem Arzt oder einem Psychotherapeuten über professionelle Behandlungsmöglichkeiten. In Notfällen gibt es Krisendienste, die Du zur akuten Hilfe in Anspruch nehmen kannst:


  • Der Sozialpsychiatrischen Dienst bietet in vielen Städten Hilfe für Menschen mit psychischen Erkrankungen und deren Angehören an. Die Kontaktdaten zu Deinem nächstgelegenen Sozialpsychiatrischen Dienst erhältst Du vom Gesundheitsamt oder über eine Internetsuche „Sozialpsychiatrischen Dienst + Dein Wohnort“.
  • Das Info-Telefon Depression 0800 – 33 44 533 (Mo, Di, Do 13 – 17 Uhr; Mi, Fr 08:30 – 12:30 Uhr) ist ein Angebot der Deutschen Depressionshilfe und bietet Krankheitsbezogene Informationen, sowie Hinweise zu Anlaufstellen.

Sport war für Daniel der Weg aus seiner Depression nach der MS-Diagnose

Gab es Veränderungen, die Du in Deinem Alltag festgestellt hast?

Das kann man so sagen, ja. Vor der Diagnose war ich absolut kein sportlich interessierter Mensch. Mein gesamter Lebensstil hatte mit Gesundheit gefühlt so überhaupt nichts zu tun. Warum auch, ich war gesund und es lief alles super. Ab und an ein Arztbesuch wegen der ein oder anderen Erkältung oder einem Bänderriss, aber nie was wirklich Ernsthaftes.

Damit war es dann schlagartig vorbei. Ich musste auf einmal häufig zum Arzt, musste mich um Termine kümmern und regelmäßig Medikamente nehmen. Die mussten teilweise erst bestellt werden, speziell gelagert und im Urlaub musste ich mich auch damit befassen.

Parallel habe ich angefangen, mich auch mit den anderen Aspekten meiner Gesundheit auseinander zu setzen. Speziell meiner Ernährung, um einen gesünderen Lebensstil zu etablieren. Dafür habe ich verschiedene Ernährungsweisen ausprobiert. Mit eher mäßigem Erfolg. Das ist auch etwas, das sich erst mit dem Sport für mich geändert hat. Vor allem, als ich gemerkt habe, dass ich mit Sport allein mein Zielgewicht nicht erreiche. Perfekt ist meine Ernährung heute natürlich immer noch nicht. Dafür ist die Versuchung, doch mal zu Junk-Food zu greifen – besonders bei stressigen Lebensabschnitten – zu groß. Und ich esse für mein Leben gern Süßigkeiten.

Generell hat sich aber meine Einstellung geändert. Ich war eher negativ eingestellt. Bei mir war von Haus aus immer alles Mist. Mir ist das aber erst bewusst geworden, als ich mich ein bisschen mit Selbstreflektion beschäftigt habe. Inzwischen habe ich auch so eine Idee, woher ich das hatte. Heute merke ich zwar, dass ich in bestimmten Situationen bzw. Umständen wieder in diese alten Muster verfalle. Dann brauche ich eine gewisse Zeit, um mich da wieder rauszukämpfen. Mein Ziel ist es trotzdem, so positiv wie möglich zu denken. Man muss dazu sagen, dass ich mit meinem Verlauf bis jetzt sehr großes Glück gehabt habe. Dadurch bin ich insgesamt entspannter geworden. Weit weg ist die Erkrankung aber nie. Insbesondere, wenn ich unter Stress stehe, kommen die Symptome, wie das „Ameisen“-Kribbeln, wieder. Aber auch sonst merke ich Veränderungen.

Welche Veränderungen haben Dir besonders Schwierigkeiten bereitet und wie gehst Du heute mit ihnen um?

Ich hatte zum Beispiel bis 2022 keine wirklich großen Probleme mit Hitze. Das hat sich geändert. Ich kannte die Auswirkungen zwar noch von Urlauben im Süden bzw. anderen heißen Sommern her, aber letztes Jahr waren diese deutlich schlimmer. Ich weiß noch, dass ich 2019 beim Ironman, trotz 40 Grad, ins Ziel gekommen bin. Da sind schon gesunde Menschen kollabiert. Im Sommer 2022 wäre das wahrscheinlich nicht mehr drin gewesen. Mir ging deutlich schneller die Kraft aus, mir wurde schwindelig und allgemein habe ich meine MS mehr gespürt. Im Urlaub zum Beispiel fiel mir das beim Spazieren auf. Ich war deutlich schneller erschöpft als ich es gewohnt bin. Und natürlich ist da die Fatigue. Ich schlafe relativ viel. Gehe teilweise sogar noch vor meinen Kindern ins Bett.

Dazu kommt, dass nach der Diagnose im Zuge der Untersuchungen, weitere Dinge festgestellt wurden, an die ich mich anpassen musste. Zum Beispiel wurde bei mir eine verminderte Vitamin-D-Produktion festgestellt, weshalb ich jetzt regelmäßig Vitamin D nehme. Von den weiteren chronischen Erkrankungen, die aber eher mit anderen Dingen zu tun haben, ganz zu schweigen. Das sind die Veränderungen, derer ich mir bewusst bin. Aber vielleicht hat es auch andere gegeben, an die ich mich im Laufe der Zeit einfach gewöhnt habe und die ich nicht mehr wahrnehme.

Heute ist Daniel offen im Umgang mit der Erkrankung und teilt seine Erfahrungen als aktiver MS-Betroffener

Bist Du mit der Erkrankung schon immer so offen umgegangen?

Nein. Gerade am Anfang hat es nur mein engster Kreis gewusst. Auf der Arbeit auch nur diejenigen, die es direkt mitbekommen haben. Der Auslöser mit dem offenen Umgang war mein erster Ironman-Triathlon. Ich war damals bei einem Heilpraktiker zur Behandlung wegen Verspannungen und habe ihm davon erzählt. Er meinte, dass die Leute von meiner Geschichte erfahren sollten und ich die am besten im Internet erzählen soll. Vorher habe ich peinlichst genau darauf geachtet, nicht mal Fotos von mir im Netz zu haben. Nach dem Gespräch habe ich mir ein Herz gefasst und meine Erfahrungen in ein paar Facebook-Gruppen geteilt. Danach habe ich dann auch eigene Social-Media-Seiten bei Instagram und Facebook erstellt. Und, toi toi toi, bis jetzt positives Feedback bekommen. Klar gab es auch Personen, die mir unterstellt haben, ich habe alles nur erfunden, aber das sind Reaktionen, mit denen man auch rechnen muss.

Am Ende war es das positive Feedback, das mich dazu ermuntert hat, weiterzumachen und dann auch mein Gesicht zu zeigen. Mittlerweile finde ich diese Interaktionen im Netz sogar schön und treffe mich ab und an mit Leuten hier in der Nähe, die ich so kennengelernt habe. Woraus auch Freundschaften oder zumindest Bekanntschaften entstanden sind. Menschen, mit denen ich mich austauschen kann, die auch selbst MS-krank sind, aber genauso ein aktives Leben führen. Mein Highlight war 2021, als ich mit einem von ihnen bei der Challenge Roth (Anmerkung der Redaktion: Die Challenge Roth ist der weltweit größte Wettkampf im Bereich der Triathlon-Langdistanz und setzt sich zusammen aus 3,9 km Schwimmen, 180 km Radfahren und 42 km Marathonlauf.) mitgemacht habe. Dadurch fühle ich mich weniger als ein Einhorn, das einzige seiner Art. Allein bei diesem Lauf wusste ich noch von drei weiteren Teilnehmern mit MS, die trotz ihrer Einschränkungen angetreten sind. Da war auch jemand dabei, der gerade noch so laufen konnte. Er hat mich nicht nur damals unglaublich beeindruckt.

Sport, Hitze und MS – Diese Kombination erfordert Zugeständnisse

Gibt es Anpassungen, die Du beim Sport aufgrund Deiner MS machen musst?

Ja, klar. Wenn es heiß ist, zum Beispiel. Da versuche ich so früh wie möglich unterwegs zu sein, so dass ich nicht durch die Mittagshitze muss. Dann ist gegen 11 Uhr auch schon Schluss mit trainieren. Beim Training selbst achte ich in der Zeit darauf, gerade bei den langen Einheiten, etwas anzugehen, das gleichzeitig Abkühlung verschafft. In der Regel ist das Radfahren, da kühlt der Fahrtwind etwas.

Ansonsten suche ich mir die Wettkämpfe nach der Jahreszeit raus. So, dass die Wahrscheinlichkeit für Hitze nicht so hoch ist. Die Regel hatte ich mir seit dem 40-Grad-Ironman schon gesetzt. Ich bin an dem Tag nach Hause gekommen und habe meiner Familie gesagt: „Wenn ich mich wieder für einen Wettkampf im Sommer anmelde, sagt ihr NEIN!“. Dann war aber zwei Wochen später die nächste Anmeldung raus. Seit letztem Jahr achte ich aufgrund der verstärkten Symptome aber besser darauf. Ich bin auch schon mal den abschließenden Marathon bei einem Triathlon „spazieren gegangen“. Das war ebenfalls ein sehr heißer Tag. Und dann war es eben ein sehr langer Spaziergang. Das geht auch.

Du hast bereits erwähnt, dass Du durch deinen besten Freund zum Sport kamst. Wie wurde aus einem Sportmuffel ein Bewegungsfan?

Das war direkt nach meinem ersten Workout in einem Spinningkurs. Genau dem, zu dem mich mein Freund damals überredet hatte. Ich bin am nächsten Tag mit schönem Muskelkater, aber auch mit einem neuen Körpergefühl aufgewacht. Ich hatte einen richtigen Endorphinschub (Anmerkung der Redaktion: Endorphine sind Teil des körpereigenen Opioidsystems, wirken schmerzunterdrückend und sind allgemein als Glückshormone bekannt.). Also habe ich mit dem Spinning weitergemacht. Bis ich mich zu einer Anmeldung für einen Triathlon habe überreden lassen. Das Training dafür ging über ein ganzes Jahr und wurde langsam gesteigert, bis ich mich fit genug für den Lauf gefühlt habe. Nachdem ich diesen ersten Lauf hinter mir hatte, war ich für das Thema Triathlon auf einmal ganz empfänglich. So ähnlich wie man das zum Beispiel von einem Autokauf kennt. Du überlegst Dir, ein bestimmtes Auto zuzulegen und auf einmal siehst Du so gut wie kein anderes Modell mehr auf der Straße.

Die Krönung kam, als mir mein Arbeitskollege eines Tages sagte: „Wir haben Startplätze bei der Challenge Roth. Du musst uns da nächstes Jahr bei einer Staffel beim Marathon unterstützen.“ Ich dachte nur: „Ach, schön. Ich habe bisher höchstens 5-km-Läufe gemacht.“

Daniels Tipp für alle Sportmuffel, nicht nur mit MS: Setzt euch klare und erreichbare Ziele!

Was würdest Du anderen Sportmuffeln raten, um Sport effektiv in ihren Alltag einzubinden?

Findet etwas, dass euch Spaß macht und belohnt euch ruhig nach dem Sport. Wenn ihr zum Beispiel gerne im Wasser seid, dann geht Schwimmen und danach in einem Solebecken entspannen oder habt Spaß auf der Rutsche. Oder wenn ihr gerne draußen seid und gerne spazieren geht, warum nicht mal Golf ausprobieren, um etwas zusätzliche Bewegung unterzubringen. Es bringt nichts euch bei Neujahr im Fitnessstudio anzumelden, wenn ihr schon beim dritten Mal hingehen keinen Spaß mehr daran habt. Dann investiert das Geld lieber in ein gutes Fahrrad und erkundet damit eure weitläufige Umgebung. Das kann gerade bei Städtern echte Urlaubsgefühle wecken, wenn ihr auf einmal zwischen Wäldern, Feldern und Kühen seid.

Ein anderes gutes Motivationsmittel sind Erfolge. Setzt euch ein erreichbares Ziel. Das muss auch nicht gleich der 10-km-Lauf sein. Es reicht auch 5 Minuten zu joggen, dann 5 Minuten Gehen u.s.w. Da kommt schon eine gute Strecke zusammen. So habe ich auch meine Familie zum Joggen bekommen. Mein ältester Sohn, begeisterter Fußballer und Fitness-Fan, hängt mich inzwischen sogar ab.

Gibt es für Dich einen Wettkampf, den Du als Deinen heiligen Gral bezeichnen würdest?

Ja, den gibt es und ich bin glücklich ihn für mich auch schon erreicht zu haben: Die Teilnahme an der Challenge Roth. Das war ein einschneidendes Erlebnis für mich. Das ist kein normales Ereignis. Das ist wie Woodstock für Sportler, das Triathlon-Mekka der Welt. Da ist von Donnerstag bis Montag den gesamten Tag Party. Die Teilnehmer kommen von überall her, nur um bei diesem Triathlon mitzumachen. Das ist der Wahnsinn, was die Sportler dort leisten. Beim ersten Mal habe ich Schwimmen und Radfahren ausgelassen und mich voll auf den Lauf konzentriert. Ich habe mich vorbereitet und lange trainiert. Ich war fit. Gleichzeitig war ich von Menschen umgeben, die um 7 Uhr mit Schwimmen gestartet sind, dann die Radstrecke hinter sich gebracht haben und mich dann mit einem Grinsen über beide Backen beim Marathon überholt haben. Und ich dachte mir nur: „Ok, das will ich auch.“

Also habe ich weiter trainiert und mich nach und nach gesteigert. Ganz nebenbei tat das meiner Gesundheit gut, ich fühlte mich fitter und mein Körper konnte mehr leisten. Inzwischen habe ich diese Challenge 6-mal mitgemacht. Davon 3-mal als Einzelstarter. Auch wenn man dort nie wirklich allein kämpft. Ich hatte mal den Fall, dass ich ein paar Kilometer vor dem Ziel aufgeben wollte. Da hat sich mir ein anderer Läufer angeschlossen und mich so lange angefeuert, bis wir beide durchs Ziel sind.

Ich muss aber auch zugeben, dass ich durchaus zum Runners High neige, übertrieben gesagt also sowas wie eine kleine Sucht nach Sport entwickelt habe. Das habe ich jetzt vor kurzem zu spüren bekommen. Ich wurde bei einem schweren Verkehrsunfall verletzt und musste daher lange Zeit aussetzen. Als ich gerade wieder mit dem Sport anfangen wollte, kam dann eine Corona-Infektion dazwischen, wodurch ich weitere 6 Wochen Zwangs-Pause machen musste. Gerade in der ersten Zeit wurde meine Stimmung ohne den Sport von Tag zu Tag schlechter. Bis ich quasi den „Entzug“ hinter mir hatte. Jetzt habe ich das umgekehrte Problem. Mit dem inneren Schweinehund auf der Couch kuscheln ist leider auch schön.

Wie überwindest Du denn diesen inneren Schweinehund?

Beim ersten Mal, muss ich zugeben, war es pures Glück. Das war während der Lockdownzeit, als es keine Wettkämpfe und damit für mich wenig Motivation gab. Da wurde der Schweinehund nicht ganz so groß, weil ich mir die Herausforderungen online bei digitalen Läufen gesucht habe.

Nach der unfallbedingten Zwangspause ist es schwieriger, da ich aus gesundheitlichen Gründen schlichtweg nichts machen konnte. Also nutze ich eiskalt meinen Ehrgeiz aus. Und da kommen die Ziele, die ich vorhin erwähnt habe, ins Spiel. Ich habe mich einfach für die nächsten Wettkämpfe angemeldet, so dass mir nichts anderes übrigbleibt als zu trainieren. Das funktioniert aber noch nicht so gut, wie ich es gerne hätte. Daher will ich in meinem Urlaub die Zeit nutzen, um wieder regelmäßig aktiv zu sein und den Spaß wieder zurückgewinnen. Man spricht ja von den berühmten 14 Tagen, die Gewohnheiten brauchen, um sich zu verfestigen. Und ich muss eben in den sauren Apfel beißen, wieder von vorn anfangen und diese 14 Tage in Angriff nehmen.

Hältst Du Deinen Arzt über Deine sportlichen Erfolge auf dem Laufenden? Was sagt er oder sie dazu?

Tatsächlich nur bei den mittlerweile sporadischen Kontrollterminen. Er selbst erzählt auch anderen Patienten von mir und freut er sich über meine Leistungen. Aber letztendlich achte ich selbst darauf, wo meine Grenzen liegen. Immer. Ich habe einen Trainingsplan von meinem Trainer, den ich befolge. Aber ich habe auch kein Problem damit, wenn meine Tagesform mir mal nicht erlaubt das zu machen was dasteht. Dann kann es auch schon vorkommen, dass ich den gesamten Tag keinen Sport mache oder nur sehr wenig. Das hat den Nebeneffekt, dass man lernt, besser auf den eigenen Körper zu hören. Ob es heute eher ein guter oder eher ein schlechter Tag ist.

„Ich werde dem Rollstuhl davonrennen, solange es geht.“

Gibt es etwas, das Du der (Arbeits-)Welt für den Umgang mit MS-Betroffenen raten möchtest?

Ja. Aufgrund der Erfahrungen, die ich gemacht habe, stelle ich einfach mal eine Behauptung auf: Gerade im Büroumfeld kommt es aus meiner Sicht durch Bandscheibenvorfälle und Rückenschmerzen zu mehr Ausfällen als durch MS. Daher ist meiner Meinung nach Aufklärungsarbeit wichtig. Ja, es kann zu einer Vielzahl von Einschränkungen kommen, aber die Möglichkeit, dass sie auftreten, ist genau das: eine Möglichkeit. Es ist keine Gewissheit oder Garantie, dass sie automatisch, weil man MS hat, auch wirklich auftreten und vor allem in welchem Maße. Selbst wenn es zu Einschränkungen kommt, kann man ihnen als Arbeitgeber gut begegnen. Zum Beispiel mit einer verlängerten Mittagspause, wenn diese notwendig ist oder eben einer angepassten Arbeitszeit. Das sind Themen, die nicht nur für MS-Betroffene so oder so aktuell sind. Und mittlerweile müssen sich, das habe ich aufgrund meiner eigenen Selbstständigkeit gelernt, Arbeitgeber bei den Arbeitnehmern bewerben und nicht umgekehrt. Meine Generation ist noch die letzte, die dem klassischen Nine-to-Five-Job anhängt. Dank den nachfolgenden Generationen sind die Begriffe Work-Life-Balance, Workation (Anmerkung der Redaktion: Der Begriff bezeichnet die Möglichkeit von überall auf der Welt arbeiten zu können und wird meist als Verschmelzung zwischen Arbeit und Urlaub, z. B. durch das Ausüben von Arbeiten an einem Urlaubsort verstanden.) und ergebnisorientierte Arbeit längst in der Arbeitswelt angekommen. Warum sollten MS-Betroffene nicht auch davon profitieren?

Gibt es etwas, das Du anderen Betroffenen, die vielleicht erst vor kurzem ihre Diagnose bekommen haben, mit auf den Weg geben möchtest?

Wir haben eine Krankheit, die nicht umsonst als die Krankheit mit den 1000 Gesichtern bezeichnet wird. Die MS wirkt sich auf jeden Betroffenen anders aus. Und ja, wir haben Angst vor möglichen Behinderungen. Vor dem Rollstuhl, der über einem schwebt. Aber diese Angst muss einen nicht zwangsläufig von einer positiven Lebenseinstellung abhalten und zum einzigen Lebensinhalt werden. Es gibt viele MS-Betroffene, die auch im Rollstuhl oder mit anderweitigen Einschränkungen zeigen, dass es geht. Lasst euch von ihnen inspirieren. In Österreich gibt es zum Beispiel die Bewegung „ms moves“. Die sind bei praktisch allen Läufen, an denen sie teilnehmen, ganz vorne mit dabei. Denn das Wollen kommt von innen heraus. Wichtig ist, dass man sich bewusst für das Positive entscheidet und nicht von den Negativbeispielen leiten lässt. Eine MS-Diagnose ist nicht das Ende des Lebens, auch wenn es sich vielleicht so anfühlt.

Ich habe bewusst „Aufgeben ist keine Option“ zu meinem Lebensmotto gemacht. Denn irgendwas geht immer, nicht nur mit Blick auf die MS. Auch wenn ich für viele immer noch ein Einhorn bin. Das ändert nichts daran, dass ich mit MS, Asthma und Bluthochdruck Ausdauersportler bin. Und ich werde dem Rollstuhl davonrennen, solange es geht. Ja, es ist ein Kampf, aber es geht immer weiter.

Danke, Daniel, dass Du Deine bewegende Geschichte mit uns geteilt hast!

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DE-NONNI-00333, 12/2022