Für MS-Betroffene hat sich viel getan. Auch wenn die genauen Ursachen der Erkrankung weiterhin geklärt werden müssen, wurden bereits große Fortschritte von der Diagnose bis hin zur Therapie erzielt. Zu verdanken ist das der unermüdlichen Forschungsarbeit vieler Menschen und so stehen Patienten mit MS heutzutage z. B. bereits zahlreiche Medikamente zur Verfügung, die helfen können, ein möglichst kompromissfreies Leben mit MS zu führen.
Die Forschung ruht sich aber nicht auf diesen Erfolgen aus, sondern geht unermüdlich voran. Und tauscht sich über ihre Arbeit aus, was wichtig ist, damit Ergebnisse möglichst vielen Menschen zur Verfügung stehen. Eine Gelegenheit für einen solchen Austausch war dieses Jahr einmal mehr die Neurowoche, die vom 01.-05. November in Berlin stattgefunden hat. Organisiert wurde sie wie immer von der DGN (Deutsche Gesellschaft für Neurologie). 2022 war es wieder möglich, sich persönlich vor Ort zu treffen und ungefähr 4500 Teilnehmer haben diese Gelegenheit auch wahrgenommen (ergänzt durch viele weitere Onlineteilnehmer).
Eine davon war Dr. med. Melanie Korsen vom Universitätsklinikum Düsseldorf, die uns an dieser Stelle ein paar Highlights der Neurowoche vorstellen möchte.
Neue Erkenntnisse zur Progression der Multiplen Sklerose
Aktuell beruht die Klassifizierung der Multiplen Sklerose auf symptom-getriebenen Kriterien, wie z.B. der Häufigkeit von Schüben. So sind die MS-Verlaufsformen RRMS (schubförmig-remittierend), SPMS (sekundär chronisch-progredient) und PPMS (primär chronisch-progredient) definiert worden. Neue Erkenntnisse zeigen aber, dass eine Einteilung basierend auf den Ursachen und der Geschwindigkeit des Voranschreitens der Krankheit möglicherweise ebenfalls sinnvoll wäre.
Sprechen wir deshalb doch zuerst einmal über Pathomechanismen, also die Vorgänge im Körper, die in ihrer Gesamtheit zu einer Krankheit führen. Oder zum Voranschreiten derselben. Bei der Neurowoche gab es nämlich genau dazu aktuelle Erkenntnisse aus dem Bereich der MS.
So war die Annahme bisher, dass MS zu Beginn rein entzündlich verläuft und erst später auch neurodegenerative Krankheitsmechanismen eine Rolle spielen. Diese Annahme war wohl zu kurz gedacht, denn unterschiedliche Untersuchungen weisen darauf hin, dass die Neurodegeneration bereits im sehr frühen Krankheitsverlauf beginnt.
Hierzu gibt es auch Forschung, die die Mechanismen hinter der (frühen) Progression bei MS betreffen. Diese könnte nach neusten Erkenntnissen durch vielfältige Mechanismen wie z.B. Entzündungen, Axonale Degeneration, Aktivierung von bestimmten Immunzellen (z. B. Mirkoglia), oxidativem Stress und weiteren Faktoren ausgelöst werden.
Diese Mechanismen lassen sich auch im MRT (Magnetresonanztomographie: bildgebende Untersuchungsmethode. Bei der Diagnose von MS gut geeignet, um typische Schädigungen des Nervengewebes sichtbar zu machen) darstellen. Ein Team aus Forschern konnte mittels einer neuartigen Methode, unterstützt von künstlicher Intelligenz und basierend auf pathologischen Merkmalen drei MS Subtypen im MRT bestimmen. Diese unterscheiden sich bezüglich der auftretenden Läsionen und interessanterweise deutlich im Risiko für das Fortschreiten der Krankheitsprogression und der Häufigkeit von Schüben.
Die Art und Häufigkeit der Läsionen im zeitlichen Verlauf scheint also eine Rolle bei der Progression der MS zu spielen, doch es geht sogar noch weiter. So konnte gezeigt werden, dass sog. SELs (engl. slowly expanding lesions – sich langsam ausbreitende Läsionen) mit dem Fortschreiten der Behinderungsprogression bei MS zusammenhängen können. Es ist interessant zu sehen, wie Art, Zahl und auch Lage der Läsionen zum individuellen Krankheitsverlauf beitragen können. So individuell wie die MS Patienten selbst, sollte deshalb wohl auch die Diagnose sein.
Im Allgemeinen bietet das MRT viel für die Feststellung der Krankheitsprogression und somit für die Diagnose. Erneut sind v.a. Läsionen relevant, also zerstörtes Nervengewebe, das in MRT-Aufnahmen je nach Typ in ganz charakteristischen Mustern erscheint. Zu Beginn der Erkrankung sind die Anzahl der Läsionen im Gehirn und Rückenmark sowie die Krankheitsaktivität in den ersten drei Jahren entscheidend.
Später werden andere Faktoren für die Progression der MS wichtig: Läsionen der Großhirnrinde (kortikale Läsionen), Auftreten neuer Läsionen im Rückenmark, der Verlust von Hirnsubstanz (Atrophie) und mehr. Ziel bei den MRT-Aufnahmen muss es deshalb sein, Methoden zu entwickeln und/oder Biomarker zu finden, um zum einen früh die Krankheitsprogression zu messen und zum anderen Patienten mit einem schnellen Krankheitsverlauf identifizieren zu können.
Das MRT als Parameter für die Therapieentscheidung ist ein Ansatz, den man weiterverfolgen, aber sicher auch noch weiter erforschen muss. Die Ursachen der Progression sind wie oben beschrieben auch ein weiterer Forschungspunkt, der weiter betrachtet werden wird. Gleichzeitig sind aber auch Überlegungen wichtig, die den Patienten und seine Erfahrung mit der Krankheit in die Therapie der MS einbeziehen. Es zeigte sich, dass hier auch Fragebögen (zu z. B. unsichtbaren Symptomen wie Fatigue, Lebensqualität usw.) und nicht nur klinische Parameter für das weitere Monitoring der MS-Erkrankung genutzt werden könnten, um eine Krankheitsprogression festzustellen.
Shared Decision Making (SDM) – Auf Augenhöhe zur MS Therapie
Im Bestfall ist die Therapieentscheidung der Austausch von 2 Experten. Der Arzt, der die medizinische Seite vertritt und der Patient, der als einziger der Experte für seine ganz persönlichen Lebensumstände und Wünsche sein kann. Kommen diese beiden Experten auf Augenhöhe zusammen, ist die Idealbedingung für die bestmögliche Therapieentscheidung geschaffen.
Das ist das Prinzip des Shared Decision Making (SDM), im Deutschen auch partizipative Entscheidungsfindung (PEF) genannt. Im Rahmen der Neurowoche wurde ein solches Konzept anhand des Beispiels der Neurologie des Universitätsklinikums Kiel vorgestellt. Hier existiert das SHARE TO CARE Programm, welches sich aus Entscheidungshilfen, Training aller Ärzte, Einbinden aller Pflegekräfte und Aktivierung der Patienten zusammensetzt.
Die Entscheidungshilfen liefern verständliche, digital zugängliche und multimediale Informationen zur Erkrankung, behandeln ihre Grundlagen sowie die verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten. Gleichzeitig werden für die Patienten relevante Aspekte abgefragt, um sie für die spätere Therapieentscheidung mit heranziehen zu können.
Die Fachkräfte des Krankenhauses, also Ärzte und Pflegekräfte, werden gezielt geschult, können sich zum Patientenbegleiter weiterbilden, erhalten Schulungen zum Führen von Arztgesprächen und mehr. Ziel ist es, den Patienten zu unterstützen und nicht direktiv von oben herab die Entscheidung vorzugeben.
Dass dieses Prinzip dazu führt, dass Patienten selbstbewusster und gestärkter in Arztgespräche gehen, wurde auch noch anhand eines weiteren Beispiels, des Decision-Coachings an der MS-Ambulanz des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf, gezeigt. Hier erhalten Patienten bis zu drei Coachings von geschulten Pflegekräften, bevor sie sich für oder gegen eine Immuntherapie entscheiden. Diese Coachings helfen zum einen, die verfügbaren Informationsmaterialien besser zu verstehen und sollen die Patienten gleichzeitig auf das abschließende Arztgespräch vorbereiten.
Die wachsende Zahl solcher Programme an deutschen Krankenhäusern, die Etablierung spezifischer Fortbildungen sowie das rege Interesse am Thema auf Kongressen, zeigen die Rolle, die SDM bereits heute einnimmt. Eine konsequente und flächendeckende Implementierung bietet in Zukunft sicherlich Vorteile nicht nur für MS-Patienten, sondern Patienten im Allgemeinen.
Zurück aus der Zukunft – wie KI, neue Technologien und Gesundheitsdaten die Multiple Sklerose Forschung beeinflussen
Digitalisierung findet ĂĽberall statt und deshalb ist der Schwerpunkt kĂĽnstliche Intelligenz fĂĽr einen Medizinerkongress auch nur auf den ersten Blick ĂĽberraschend. Denn gerade in der Neurologie bieten KI-unterstĂĽtzte Systeme zahlreiche Chancen, wenn man die verfĂĽgbaren Potenziale nur richtig einsetzt.
Einmal mehr ist das MRT ein gutes Beispiel. Algorithmen können nämlich nicht nur bei der Auswertung von Bildern helfen, sondern sie sogar vorhersagen. Über bereits vorhandene Bilder werden die weiteren Ergebnisse eines MRTs berechnet und die Länge der Untersuchung so drastisch reduziert. Eine Erleichterung für Patienten und Ärzte.
Doch auch Smartwatches oder z. B. Fitness Tracker können für das fortlaufende Monitoring der Erkrankung MS herangezogen werden. Zum einen für aktive Untersuchungen. Hier werden Patienten bestimmte Apps zur Verfügung gestellt, die zu kognitiven oder motorischen Tests auffordern. Die Erfahrung zeigt allerdings, dass nach ca. 6 Monaten das Interesse an solchen aktiven Tests deutlich abnimmt und damit auch die Datendichte zurückgeht.
Ein interessanter Ansatz, mit dem Patienten ganz nebenbei unterstützt werden können, ist die passive Nutzung von Daten, die im Alltag auf Smartphone und Co generiert werden. Hier könnte man u.a. Feinmotorik und Konzentration über das Auslesen der Handytastatur auswerten. Parameter wären hier z. B. Tippgeschwindigkeit und Fehlerhäufigkeit. Solche „digitalen Biomarker“ bieten viele Möglichkeiten für Patienten und Forschung. Sie werden sicherlich in der Zukunft an Bedeutung gewinnen, kann doch so der Krankheitsverlauf der MS realitätsnah und engmaschig überwacht werden.
Vielen Dank an Dr. med. Melanie Korsen, dass sie diese spannenden, neuen Erkenntnisse von der Neurowoche 2022 mit uns geteilt hat.
Wie findet ihr eine solche Kongressbegleitung? Möchtet ihr mehr davon? Was fandet ihr besonders spannend? Zu welchem Thema wollt ihr vielleicht noch weitere Infos? Sagt es uns gerne bei Facebook und Instagram.
DE-NONNI-00323, Stand 11/2022