Ehrgeiz und Positivität zeichnen Nadine aus. Das erste war schon immer da, das zweite musste sie sich erarbeiten, denn ihre MS hat ihr viel abverlangt. Als sie mit 27 Jahren verrentet wird, fällt sie in ein Loch. Doch sie gibt sich nicht auf, sondern verleiht ihrem Leben eine ganz neue Richtung. Sie ist Mutter einer erwachsenen Tochter, leitet mehrere MS-Selbsthilfegruppen und teilt auf ihrem Instagram-Account, ihre Erfahrungen mit anderen mit dem Ziel den Austausch in der MS-Community zu fördern.

Wir freuen uns auf das Gespräch mit ihr.

Nadines Geschichte zeigt: Auch Kinder können von MS betroffen sein.

Du hast uns im Vorfeld erzählt, dass Dein Leben mit MS bereits lange vor der eigentlichen Diagnose begonnen hat. Wie hat sich das geäußert?

Nadine: Wenn ich so darüber nachdenke, hatte ich die ersten Symptome schon als Kind, sicher losgegangen ist es dann aber mit ungefähr 10 Jahren. Da gab es immer wieder unerklärliche Geschichten. Ich bin die Treppe hinaufgefallen, habe ständig irgendwo danebengegriffen, bin in den Türrahmen gelaufen, wenn ich zu schnell um die Kurve bin oder habe das ein oder andere Glas auf den Boden fallen lassen. Das wurde immer als Schussligkeit abgetan und ich dachte mir nichts dabei. Es war ebenso, aber zurückschauend würde ich vermuten, dass das alles schon erste Symptome waren.

Wie ging die Entwicklung weiter?

Nadine: Es war letztlich ein Tag in 1995, ich war 14 Jahre alt, der die Dinge für mich richtig geändert hat. Ich hatte Magenprobleme und war unglaublich müde. Da dachte ich noch, dass ich sicher was Falsches gegessen habe und recht heiß war es damals den ganzen Tag über auch gewesen. Dann wurde es aber schlimmer. Kopfschmerzen, Kraftlosigkeit und Erschöpfung im ganzen Körper, schwere Arme, schwere Beine. Das hat sich über Stunden so weit zugespitzt, bis ich schließlich mit Lähmungserscheinungen in der rechten Körperhälfte ins Krankenhaus gebracht wurde. Dort war dann der Totalausfall erreicht. Augendoppelbilder, ich konnte weder sprechen noch gehen. Bei mir hat nichts mehr funktioniert.

„Ja, haben die dir die Diagnose denn nicht mitgeteilt?“

Was hat man vermutet, dass Dir fehlt?

Nadine: Als Erstverdacht stand ein Schlaganfall oder auch eine Meningitis im Raum, das wurde dann aber wieder verworfen. Ich habe Medikamente bekommen, ohne zu wissen was. Damit ging es mir besser und ich wurde aus dem Krankenhaus entlassen, ohne irgendetwas von einer Diagnose gehört zu haben. Danach lief es weiter wie davor, mit unerklärlichen Symptomen. Die waren jetzt aber ausgeprägter, auch die Kraftlosigkeit und ich hatte Probleme mit dem Auge. Es kamen Sensibilitätsstörungen auf der Haut dazu, was mein Arzt damals als möglichen Herpes abgetan hat und mir Tabletten verschrieben hat und eben lauter Sachen, die typisch für MS sind. Die Probleme traten nie zusammen auf, sondern so, dass ich jedes Jahr einen oder zwei Vorfälle hatte. Es war dann erst 1998, dass ich wieder ins Krankenhaus musste, weil ich vom Bauch abwärts plötzlich Lähmungserscheinungen hatte. Da dann wieder Medikamente und nach ein paar Tagen entlassen ohne Diagnose. Danach war ich wirklich mental fertig mit meinen 17 Jahren, weil ich zu dem Zeitpunkt auch schon ein paar Mal gehört hatte, das ich mir die Sachen doch sicher nur einbilde. Ich habe mit meinem Hausarzt darüber gesprochen als ich ihm den Entlassbrief gegeben habe und da hat er dann zu mir gesagt: Ja, haben die dir die Diagnose denn nicht mitgeteilt?

Das heißt, bei Deinem zweiten Krankenhausaufenthalt stand die Diagnose MS dann schon im Raum?

Nadine: Nein, bereits 1995. Da war in den Papieren Verdacht auf ED (Anmerkung der Redaktion: Encephalomyelitis disseminata, andere Bezeichnung der MS) vermerkt. Ich bin sozusagen drei Jahre lang im Dunkeln getappt. Zwar waren wir in der Zwischenzeit umgezogen und ich hatte andere Ärzte, aber ich hatte immer darauf geachtet, dass die alle Unterlagen von mir hatten. Bei meinem zweiten Krankenhausaufenthalt hat man die Diagnose wohl erst gesichert, aber ich habe wieder nichts davon gehört.

Was sind Deiner Meinung nach die Gründe dafür, dass man es Dir nicht gesagt hat?

Nadine: Mein Hausarzt meinte nur, dass niemand einem jungen Mädchen oder ihren Eltern gerne eine solche Nachricht überbringen mag. Hätte ja auch sein können, dass es nur ein Vorfall ist und dann nie wieder etwas kommt. Warum hätte man mir also meine Jugend kaputt machen sollen, wenn es ein leichter Verlauf gewesen wäre.

Würdest Du Dir wünschen, dass man es Dir gesagt hätte? Hättest Du vielleicht besser mit Deiner Situation umgehen können?

Nadine: Das war damals mein erster Impuls, ja. Hätten sie es mir doch gesagt. Dann dachte ich aber wieder, was hätte es geändert und war es möglicherweise wirklich schützender für mich? Ich kann es schwer einschätzen.

Die Multiple Sklerose hat nicht nur Nadines Alltag beeinflusst, auch ihr in ihrem Arbeitsleben zeigten sich Auswirkungen

Was wurde Dir dann über die MS gesagt und wie konntest Du damit umgehen?

Nadine: Erstmal war es hart. Als ich gemerkt habe, dass mein Hausarzt mir etwas Schlimmes sagen wird, war ich irgendwie schon in einem Tunnel und habe abgeschaltet. Er hat dann von Entzündungen im Rückenmark und Gehirn gesprochen und dass man Cortison bekommt, wenn man einen Schub hat und dass dann danach schon wieder alles wird. Heilen kann man es zwar nicht, aber man kann schon ein bisschen was dagegen tun. Das war dann erstmal ein Schock und mir ist erst im Auto, als ich mit meinen Eltern darüber gesprochen habe, klar geworden, was er mir da gerade gesagt hatte. Und was das für mich bedeuten könnte. Das Einzige, was ich nämlich von MS wusste, war, dass es unser damaliger Nachbar gehabt hatte und in Folge daran gestorben ist. Das war erstmal eine unschöne Situation für mich und meine Familie. Da ich aber vom Naturell her jemand bin, der sich nicht unterkriegen lässt, habe ich mich schnell darauf eingestellt. Vielleicht hat mir auch mein jugendlicher Leichtsinn geholfen, es zu verarbeiten. Ich habe mich auf jeden Fall darauf konzentriert, meine Lehre durchzuziehen, in der Freizeit war ich aber oft ausgeknockt, weil ich einfach zu kaputt war.

Wussten Deine Freunde, was mit Dir los war?

Nadine: Der engste Kreis schon, die hatten sich ja auch Sorgen gemacht, warum ich im Krankenhaus gewesen bin. Es gab also Leute, bei denen ich es sagen konnte, aber ansonsten hat man es damals nicht offen thematisiert. Für meine Freunde war es aber in Ordnung.

Du hast ja bereits Deine Lehre angesprochen. Wie war da der Umgang mit der MS?

Nadine: Da musste ich mich immer mehr beweisen als alle anderen. Ich hatte das Pech, dass ich meine Ausbildung in einer Bäckerei gemacht habe. Wenn man sich mit MS ein bisschen auskennt und weiß, was Hitze da auslösen kann, dann war das vielleicht nicht die beste Entscheidung. Auch wegen meiner Problematik mit dem Gehen. Ich hatte also immer wieder Probleme in der Arbeit und mir wurde oft gesagt, ich sei zu langsam und schusselig und tu nur so. Damals hatte ich ja aber meine Diagnose noch nicht und die Leute wussten nicht, dass ich junges Ding mir nicht die Nächte um die Ohren schlage und feiere, sondern krank war. Ich hatte also leider schnell den Simulantenstempel und habe mich nur umso mehr reingehängt, weil ich dem entgegenwirken und meine Lehre schaffen wollte.

Hat sich das dann geändert, als Du die Diagnose hattest?

Nadine: Da war ich schon auf dem Weg, mich auf eine andere Stelle zu bewerben, habe es meiner damaligen Chefin aber trotzdem gesagt. Ich wollte es ihr erklären, weil ja alle immer dachten, ich mache das mit Absicht oder stelle mich einfach doof an. Sie ist aus allen Wolken gefallen und es tat ihr sichtlich leid. Sie hat mir dann auch tatsächlich angeboten, dass ich wieder bei ihr anfangen könnte, sollte es wegen meiner Diagnose auf der neuen Arbeit zu Problemen kommen. Das war mein erstes richtiges Aha-Erlebnis, dass nicht alle Leute, das Thema MS als schlimm auffassen. Da ich aber meinen eigenen Kopf hatte und auch weg von der Hitze in der Bäckerei wollte, habe ich mein Vorhaben trotzdem durchgezogen und habe in den Einzelhandel gewechselt.

MS, Kinder und Beruf – Nicht immer leicht, aber möglich

Wie ging es da mit Dir weiter?

Nadine: Leider hat der neue Job vom Arbeitsklima her nicht gepasst, so dass ich mir nach einem halben Jahr etwas Neues gesucht habe. Wieder Einzelhandel. Ich hatte da eigentlich nur ganz spontan und rein interessehalber angefragt, ob sie jemanden suchen, und das taten sie tatsächlich. Aber nur in Teilzeit, was ich mit meinem Selbstbewusstsein direkt kommentiert habe. Wenn dann nur Vollzeit. Ich habe eine eigene Wohnung, das kostet Geld. Scheinbar hatte das der Chefin gefallen und sie meinte, dass gerade zufällig die Bezirksleiter da wären und ob ich die nicht kennenlernen wollen würde. Ich hatte nichts vorbereitet, keine Unterlagen, sah aus wie sonst was, bin aber ganz aufgeregt mit. In dem Gespräch kam dann tatsächlich der Punkt zur Sprache, ob ich irgendwelche Krankheiten hätte. Damals hatte ich noch keine Ahnung, dass ich sowas nicht hätte beantworten müssen und es ging auch so schnell, dass ich einfach gesagt habe: Ich habe MS, das ist aber kein Problem, ich habe damit ja auch meine Lehre durchgezogen. Ein paar Tage später habe ich die Nachricht bekommen, dass sie mich einstellen wollen, allerdings mit einer längeren Probezeit. Da dachte ich mir zwar, was das soll, weil ich ja nichts dafür kann, dass ich krank bin, aber ich habe die Chance trotzdem ergriffen.

Würdest Du auch anderen Betroffenen zu einem offenen Umgang mit der Krankheit raten?

Nadine: In meiner speziellen Bewerbungssituation damals war der offene Umgang ja nur halb freiwillig, da ich mehr oder minder überrumpelt worden bin. Zu meinem Nachteil war es allerdings trotzdem nicht und ich bin in der damaligen Position schnell beruflich vorangekommen und wurde zur Stellvertretung ernannt. Ich würde also sagen, dass es für mich immer gut war, dass ich es offen kommuniziert habe. Wenn die Arbeit die Information braucht, ist es besser, mit offenen Karten zu spielen. Wenn die MS für den Job keine Rolle spielt oder man nicht eingeschränkt ist, dann muss es jeder selbst wissen. Mir war es eben wichtig, weil ich oft lange Strecken zu gehen hatte oder auch mal schwere Sachen tragen musste. Das ging zwar bis zu einem gewissen Grad, aber die Kolleginnen und Kollegen wussten trotzdem, wann und vor allem warum es für mich Zeit wurde, besser an die Kasse zu wechseln.

Das war die Zeit, in der Du Deine Tochter bekommen hast, richtig? Wie hat es sich während der Schwangerschaft mit der MS verhalten?

Nadine: Genau, ich bin von dort aus mit meiner Tochter in Elternzeit gegangen. Mit der MS war es ok während der Schwangerschaft. Meine Therapie wurde ausgesetzt und ich hatte tatsächlich einen ganz leichten Schub in der Zeit, der sich aber ohne Medikamente wieder gegeben hat. Nach der Entbindung wurde die Therapie dann gleich wieder gestartet. Damals war man noch nicht so weit, dass man gesagt hätte, dass man auch nach der Geburt noch warten kann, bevor man wieder beginnt. Stillen war mir deswegen leider nicht möglich.

Bist Du nach der Elternzeit wieder zurück in Deinen alten Beruf?

Nadine: Ich habe damals viel nachgedacht und entschieden, dass ich etwas brauche, von dem ich dachte, dass es mit Familie und MS besser vereinbar gewesen wäre. Ich habe also einen Aufhebungsvertrag unterschrieben und bin über eine Freundin an einen Bürojob gekommen. Leider ist es ab da mit der MS deutlich schlechter geworden. In der Arbeit war es sehr stressig, weil vielen gekündigt wurde, das Leben mit kleinem Kind war zwar wunderschön, aber eben auch total anders und in meinem kompletten Umfeld ist damals einfach viel passiert. Das hat in der Kombination dazu geführt, dass sich meine Gesundheit verschlechtert hat und ich auf Reha musste.

„Letztendlich war es der Kontakt zu anderen MS-Betroffenen, über den ich wieder in so etwas wie eine Gemeinschaft gekommen bin.“

Wie ist es Dir auf Reha ergangen?

Nadine: Da gab es einen Sozialarbeiter, der mich unsanft auf den Boden der Tatsachen geholt hat. Ich – selbstbewusst wie ich bin – hatte schon wieder Pläne, mir nach der Reha einen Job zu suchen, der in meine Situation passte und in dem es mir gut gehen würde. Der Mann vom sozialen Dienst meinte dann, dass es eine solche Arbeit für mich mit meiner Vorgeschichte, meiner Situation und meinen Befunden vermutlich nicht geben würde. Es wurde das Thema Rente angesprochen. Das hatte gesessen. Ich habe immer viel gearbeitet und war das auch gewöhnt. Deswegen hat sich erstmal mein Trotz gemeldet und ich habe mir gesagt: Das geht nicht, ich bin erst 27 Jahre alt. Während der Reha hatte ich aber noch viele Gespräche mit ihm und auch mit einer Psychologin. Da wurde mir langsam bewusst, dass nicht alles kaputt wäre, was ich mir aufgebaut habe, sondern dass ich mir nur schaden würde, wenn ich so weitermache wie bisher. Ich bin also nach Hause mit dem Rentenantrag in der Tasche, aber trotzdem erstmal in ein Loch gefallen. Das ist vermutlich normal, wenn man mit so etwas konfrontiert ist und es wirklich verarbeitet. Ich habe mir dann therapeutische Hilfe gesucht, weil ich es allein nicht geschafft hätte. Ich war einfach so traurig. Da ich aber einen Geist habe, der sich immer etwas suchen muss, habe ich schnell gemerkt, dass ich etwas machen muss. Ich bin also wieder aktiv geworden.

Was hat Dir im Umgang mit dieser Situation geholfen?

Nadine: Die Zeit, in der ich vorrangig zu Hause gesessen bin, hat mir nicht gutgetan. Der Mensch ist einfach ein soziales Wesen und braucht Kontakte, zumal ich ja auch noch total jung gewesen bin. Letztendlich war es der Kontakt mit anderen MS-Betroffenen über den ich wieder in so etwas wie eine Gemeinschaft gekommen bin. Ich habe jedes Angebot für MS-Betroffene genutzt, das ich da gefunden habe und auf das ich Lust hatte. Yoga? Super, versuche ich. Ein Drum Circle? Gut, gehe ich in einen Drum Circle. Klettern? Wollte ich schon immer mal. Ich musste einfach aktiv sein und wollte möglichst viele positive Momente erleben. So bin ich letztendlich auch zu meiner Selbsthilfegruppe gekommen.

So kann ich für mich die durch MS bedingte Fatigue gut handhaben

Du hattest uns im Vorfeld auch erzählt, dass Du schon immer mit Fatigue zu kämpfen hattest. Wie war das für Dich und hat sich in dieser Zeit denn auch etwas im Umgang damit geändert, was Dir geholfen hat?

Nadine: Früher war es wirklich sehr schlimm damit. Ich war nach der Schule und Arbeit immer so erschöpft, dass mein Leben eigentlich nicht mehr stattgefunden hat. Morgens war ich auch oft dermaßen kaputt, dass ich noch nicht mal meinen Wecker gehört habe. Da wurden dann Medikamente ausprobiert, die aber nicht geholfen haben, bis ich irgendwann gemerkt habe, dass mir Bewegung hilft, auch wenn ich abgeschlagen war. Leider habe ich das damals aber nicht regelmäßig verfolgt, weil der innere Schweinehund wohl doch zu groß war. Als ich mit meiner Tochter zu Hause war, habe ich mir meinen Tag soweit es ging so eingeteilt, dass es mir nicht zu viel wurde. Ich habe auf ausreichend Schlaf geachtet, wenn das mit kleinem Kind denn möglich war und habe aber auch die Zeit, in der meine Tochter untertags geschlafen hatte, lieber für Pausen genutzt und nicht um schnell etwas im Haushalt zu erledigen. Mein Verhalten hat sich also langsam verändert. Als ich verrentet war, habe ich versucht, mir wieder einen geregelten Tagesablauf zuzulegen und da dann auf eine Balance zwischen aktiven und ruhigen Tätigkeiten geachtet. Das hat mir gutgetan. Hinsichtlich Aktivität habe ich zu der Zeit auch noch eine Ausbildung zur Heilpraktikerin gemacht und mir da – was das Entspannen anbelangt – auch ein paar Dinge für meine Fatigue herausziehen können. So bin ich beispielsweise zum Meditieren gekommen, bewege mich viel, achte zumindest ein bisschen auf meine Ernährung und bemühe mich um eine positive Lebensweise. So kann ich für mich die Fatigue gut handhaben.

Damit niemand abgekapselt leben muss, sondern genug Anlaufstellen und Hilfe hat – welche Bedeutung Selbsthilfegruppen für Nadine haben

Lass uns doch auf das Thema Selbsthilfe zurückkommen. Warst Du früher schon häufiger in solchen Gruppen?

Nadine: Die ersten Berührungspunkte dazu hatte ich tatsächlich schon sehr früh, und zwar als ich mit 17 meine Diagnose bekommen habe. Es war meine Nachbarin von damals, deren Mann ja ebenfalls MS hatte, die für mich den Kontakt hergestellt hat. Eine Sozialpädagogin hat mich besucht, mich über die MS aufgeklärt und auch über alle möglichen Angebote. So bin ich dann sozusagen in eine Selbsthilfegruppe gerutscht. Ich war ein paar Mal da und habe mir dann mit meinen jungen Jahren wohl gedacht: Nett, aber ich geh lieber wieder feiern. In der Selbsthilfe war ich dann nicht mehr wirklich oft, bis ich mich eben nach meiner Verrentung wieder intensiv mit meiner MS auseinandersetzen wollte und auch musste.

So kam es dann, dass Du in der MS-Community aktiv tätig wurdest?

Nadine: Kann man wohl so sagen. Inzwischen bin ich in zwei Selbsthilfegruppen tätig. Die, in der ich selbst immer war, und eine weitere für jüngere MS-Betroffene, in der wir Themen behandeln, die eben für Jüngere interessant und wichtig sind. Auch arbeitsbezogene. Das ist wirklich interessant und man hat mit so vielen Leuten zu tun, die etwas für MS-Betroffene bewegen wollen. Gerade ich mit meiner Geschichte, wie ich es sozusagen in den Anfängen der MS-Therapie erlebt habe, helfe gerne mit, dass es noch besser wird, als es sowieso schon ist. Damit niemand abgekapselt leben muss, sondern genug Anlaufstellen und Hilfe hat.

„Die Multiple Sklerose ist da und auch im Alltag zu spüren, aber ich kann mit ruhigem Gewissen sagen, dass ich glücklich bin.“

Rätst Du das auch anderen Betroffenen in Deinen Gruppen? Sich nicht abzukapseln?

Nadine: Man sollte den Mut haben, sich Hilfe zu suchen. Bei Ärzten, im Internet, sich mit anderen Betroffenen austauschen. Zum Beispiel in den Gruppen. Da muss man übrigens auch keine Angst haben, dass es immer nur um das eine geht. Wir klammern die MS oft einfach aus und reden und lachen nur. Aber man hat trotzdem den Zusammenhalt und unglaublich viel Input. Jede MS ist anders und bringt Themen mit sich, die man selbst schwer bewältigen kann. Gerade deswegen sollte man sich aber öffnen, denn in der heutigen Zeit hat man viele Möglichkeiten. Man muss sich nicht verstecken und es allein machen.

Was würdest Du Dir für eine Welt wünschen, in der MS kein Thema mehr wäre und was müsste dafür in der Arbeitswelt und der Gesellschaft passieren?

Nadine: Träumen darf man ja. Man sollte mit MS die Möglichkeit haben, selbstbestimmt und kompromissfrei zu leben und das ohne großen Aufwand. Auch bürokratischen. Wenn ich Hilfe benötige, sollte ich die schnell bekommen. Barrieren müssen abgebaut werden. Nicht nur in den Köpfen, sondern auch draußen, denn wenn ich im Rollstuhl sitze, sollte ich trotzdem überall hinkönnen. In meiner Traumwelt sieht es also so aus, dass jeder – egal ob krank oder behindert – dieselben Möglichkeiten hat, wie Nicht-Kranke.

Was uns zum Ende noch interessieren würde. Wie geht es Dir heute mit Deiner MS?

Nadine: Es würde sich komisch anfühlen, wenn ich sage, dass es mir gut geht. Das widerspricht sich irgendwie in meinem Kopf. Dennoch wäre ich ohne die MS nicht der Mensch, der ich heute bin und hätte nicht das erlebt, was ich erlebt habe. Ich habe ein Leben, in dem mir vieles, was anderen total wichtig ist, total unwichtig erscheint, und in dem ich mit meiner MS koexistiere. Ich kenne es ja letztendlich gar nicht anders oder könnte mich an eine Zeit erinnern, in der sie nicht da gewesen wäre. Wir haben uns inzwischen also arrangiert, auch wenn ich sie definitiv nicht als meine Freundin bezeichnen würde, was man ja auch manchmal hört. Ich achte die MS, wenn sie es braucht, bemühe mich aber ansonsten um einen guten Umgang im Leben und positive Momente. Die Multiple Sklerose ist da und auch im Alltag zu spüren, aber ich kann mit ruhigem Gewissen sagen, dass ich glücklich bin.

Danke, Nadine, dass Du Deine bewegende Geschichte mit uns geteilt hast.


DE-NONNI-00299 (10/2022)

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