Mein erstes Symptom war eine MS bedingte SehnerventzĂĽndung

Wann hast Du die ersten Symptome bemerkt?

Das erste Symptom hatte ich schon 1985. Das war eine Sehnerventzündung. Zu der Zeit habe ich meinen Wehrdienst geleistet und habe beim Fußball spielen gemerkt, dass ich wie durch Milchglas schaue. Ich kam in die Augenklinik, wo man mich umfangreich untersucht und mit Kortison behandelt hat. Die Entzündung ging daraufhin zurück. Damit dachte ich, dass die Angelegenheit vorbei wäre. Die eigentliche Diagnose kam dann 1988.

Wie kam es zu diesem langen Zeitraum zwischen dem ersten Symptom und der Diagnose?

Nach der Sehnerventzündung war ich bis zur Diagnose schubfrei. Ich hatte zwar einen Hörsturz, aber es ist nicht gesichert, dass dieser MS bedingt war. Ansonsten gab es keine Anzeichen, dass es eine chronische Erkrankung sein könnte.

1988 hatte ich dann den ersten wirklich starken Schub, der mich schwer beeinträchtigt hat. Ich hatte in der Zeit gerade mein Mathematikstudium abgebrochen und wollte ein Grafikstudium aufnehmen. Zeitgleich habe ich noch in Schichtarbeit gearbeitet, um ein bisschen Geld zu verdienen. Da fing es an, dass ich Sachen fallen ließ und häufiger gestolpert bin. Dies wurde immer schlimmer, ich hatte immer weniger Halt und es ging so weit, dass ich sogar über Teppichkanten gestolpert bin.

Meine damalige Freundin, heute meine Frau, die Kinderkrankenschwester ist, hat mit ihrer Ärztin gesprochen und auch erwähnt, dass ich mal eine Sehnerventzündung hatte. Die Ärztin hat dann die Verbindung gezogen und empfohlen, dass ich unbedingt zum Neurologen gehe. Das habe ich gemacht und wurde zunächst mit Kortison behandelt, bis ich wieder laufen konnte. Danach hat mir der Arzt dann die Diagnose Multiple Sklerose gestellt.

Wie ging es Dir direkt nach Deiner Diagnose?

Naja, das Kortison hatte mir ja sehr gut geholfen. Mir ging es gut genug, dass ich den Arzt gefragt habe, wann ich denn wieder Fußball spielen könnte.

Zu meinem Diagnosegespräch selbst muss man wahrscheinlich dazu sagen, dass es eine andere Zeit war. Er hat mir klar gesagt was ich habe und gab mir ein kleines Fachbüchlein von einem anderen Arzt. Ich sollte mir selbst erlesen, was die Diagnose genau bedeutet. Das gute war, dass es ein von einem MS-Experten verfasstes Fachbuch war und es damals auch nicht so viel Information zur MS gab wie heute. So konnte ich mich schon früh zum Thema belesen. Das problematische an dem Gespräch war eigentlich, dass er mir von meinem Grafikstudium abriet, da die Symptome in Zukunft auch Zittern umfassen könnten und das bei einem Grafiker nicht die beste Voraussetzung ist. Ich denke, das würde heute kein Arzt mehr machen. Er hatte zwar rein rational nicht unrecht, aber ich habe mich dennoch nicht darangehalten.

Es war keine einfache Zeit, aber ich hatte keine großen Beschwerden. Bis auf eine kleine Schwäche im Knie und Schwierigkeiten in der Feinmotorik auf der rechten Seite. Ich bin Linkshänder, von daher hat mich das nicht außerordentlich eingeschränkt. So gesehen ging es mir gut und ich hatte eine gute Ausgangslage die Diagnose zu verarbeiten. Ich weiß aber nicht, ob ich bei größeren Einschränkungen auch so gut damit umgegangen wäre.

FĂĽr mich war wichtig, dass ich auch mit MS meinem Sport und vor allem dem Zeichnen nachgehen kann

Wenn Du Dein Leben vor und nach der Diagnose vergleichst, wie viel hat sich für Dich verändert?

Eine der gravierenden Veränderungen war die Beeinträchtigung beim Sport. Vor der Diagnose habe ich viel Sport gemacht, aber in der Art und Weise konnte ich das nicht mehr. Ich habe zwar noch eine Zeitlang Fußball im Verein gespielt, mit einer Bandage, um mehr Halt zu haben, aber das ging irgendwann auch nicht mehr. Das war eine Einschränkung, mit der ich klarkommen musste. Das entscheidende war für mich, dass ich weiter zeichnen konnte. Von diesem Standpunkt aus war alles andere zu verkraften.

Es ist aber wirklich wahr was die Leute nach so einer Diagnose sagen: Man lebt bewusster! Man denkt über seine Möglichkeiten, die Zukunft und seine Ziele aufmerksamer nach. Darüber was einem wichtig ist und dass man das Leben deutlich mehr genießt.

Für mich ist es zum Beispiel die Tatsache, dass ich meinen Job schätze. Ich habe aus meinem Hobby meinen Beruf gemacht und kann meine Krankheit darin verarbeiten. Das ist die schönste Konstellation, die es gibt. Und ich schätze mich glücklich so mobil zu sein, wie ich es aktuell bin. Das erlaubt mir, gerade in meinem Job, spontan und flexibel zu sein. Im Zuge meiner Arbeit treffe ich häufig Menschen, bei denen das leider nicht der Fall ist. Von daher gehört auch das für mich zu den Aspekten, die ich bewusst wahrnehme und für die ich dankbar bin. Im Großen und Ganzen versuche ich die Dinge, die ich vor der Diagnose genossen habe, weiterhin zu genießen. Aber bewusster.

Gab es Veränderungen, die Deinen Alltag direkt betrafen? Welche Strategien hast Du für Dich entdeckt, die diese erleichtern?

Ich habe mir einen gewissen Rhythmus angewöhnt. Der ergab sich mehr oder weniger von allein durch meine Behandlung. Dadurch bin ich auch disziplinierter geworden in meinem Tagesablauf und habe erkannt, dass mir das hilft. Unter anderem, weil ich dann meine Pausen bewusst planen und wahrnehmen kann. Aber auch weil ich dadurch gelernt habe einzuschätzen, wie weit ich gehen kann. Das sind Dinge, die sich mit der Zeit eingespielt haben. Für mich ist diese Routine unheimlich wichtig.

Meine Selbstständigkeit hilft an dieser Stelle auch. In der ehemaligen DDR hatte ich, ohne eine entsprechende Berufsausbildung keine Chance den Job zu machen, den ich jetzt mache. Dann kam die Wiedervereinigung und ich habe die Gelegenheit genutzt mich selbstständig zu machen. Der Vorteil ist, dass ich mir meine Jobsituation erlaubt die besagten Pausen selbst einzurichten, und zwar wie und wann ich sie brauche. Auf der anderen Seite arbeite ich von zuhause aus, was das Abschalten nach der Arbeit nicht leichter macht.

Sind mit der Zeit noch weitere Symptome dazu gekommen?

Am Anfang hatte ich fast alle 6 Monate Schübe, die aber größtenteils mit Kortison wieder weggingen. Heute bin ich körperlich nicht mehr so fit wie vor der MS. Aber ich habe keine Einschränkungen, die ein Außenstehender sehen würde. Auch Müdigkeit und Fatigue sind bei mir nur in geringem Maße vorhanden. Ich kann mich noch gut bewegen, auch wenn das Tempo nicht mehr so ist wie früher. Insofern sind es bei mir Kleinigkeiten, die zwar schlechter werden, mich aber nicht schwer beeinträchtigen.

Gibt es ein Erlebnis, dass Dich nach Deiner Diagnose besonders bewegt oder einen besonderen Eindruck hinterlassen hat?

Ein wirkliches SchlĂĽsselerlebnis in dem Sinne hatte ich nicht. Bei mir war es mehr eine langsame Entwicklung und Begegnungen, die bei mir einen Eindruck hinterlassen haben. Teilweise auch Begegnungen, die mich wieder geerdet haben, wenn ich die Welt und die Erkrankung zu optimistisch oder zu pessimistisch gesehen habe. Geschichten, die an mich herangetragen wurden und die mein Leben in Relation setzten.

Oder Momente, in denen ich mitbekommen habe, dass meine Arbeit Betroffenen hilft mit ihrer Erkrankung besser umzugehen. Ich hatte einmal Post von einer Dame aus der Schweiz, die mir berichtet hat, dass ihr Mann aufgrund meiner Zeichnungen das erste Mal seit 5 Jahren über seine Krankheit lachen konnte. Das sind Erlebnisse und Bestätigungen meiner Arbeit, die mir natürlich im Gedächtnis bleiben. Und ich mich freue, dass ich anderen Betroffenen eine kleine Hilfe sein kann.

Als ich meine Diagnose bekam, gab es kein Internet und ich bin froh, dass ich meine ersten Informationen zur MS aus einem Fachbuch bekommen habe

Seit Deiner Diagnose ist inzwischen viel Zeit vergangen. Wie empfindest Du den Umgang mit MS heute im Vergleich zu damals?

Ich bin da vielleicht in der Minderheit, aber ich bin ganz froh, dass es damals, als ich die Diagnose bekommen habe, kein Internet gab. Wenn jemand heute die Diagnose MS bekommt, hat er so viele Möglichkeiten sich auf verschiedenen Seiten zu informieren. Aber eben auch unwissentlich auf falsche Angaben stoßen, die verwirren und am Ende sogar das Vertrauen in den behandelnden Arzt untergraben können. Dadurch können Fehler passieren, die man eventuell nicht mehr revidieren kann. Für mich gab es damals keine andere Möglichkeit, ich musste meinem Arzt vertrauen. Und letztendlich bin ich froh darüber, da mir die Schulmedizin bisher sehr gut geholfen hat.

Die MS ist Teil meines Lebens, den ich öffentlich lebe und in Comic Form verarbeite

In Deiner beruflichen Tätigkeit gehst Du sehr offen mit der MS um. Ist das in Deinem privaten Umfeld auch so?

Zu Anfang war das nicht so. Natürlich wussten meine Familie und meine besten Freunde Bescheid. Grundsätzlich habe ich es anderen gegenüber nicht verschwiegen, aber es kam trotzdem nur selten zur Sprache, da man mir die MS eben nicht ansieht. Entsprechend erschrocken waren dann die Reaktionen, wenn es doch Thema wurde. Das war meistens der Fall, wenn die Einschränkungen, die ja doch vorhanden sind, sich bemerkbar machten.

Die MS ist ein Teil meines Lebens, den ich öffentlich lebe, daher gibt es inzwischen privat auch keine großen Geheimnisse mehr um das Thema. Aber ich kenne auch viele andere, auch junge Betroffene, die es z. B. ihrem Arbeitgeber nicht gesagt haben und vorsichtig sind. Daher weiß ich, dass es solche Probleme im Umgang mit der MS gibt. Aus meiner Sicht bringt es aber nichts etwas vorzutäuschen was nicht ist. Daher bin ich dafür offen mit der MS umzugehen. Ich kann aber entsprechend nur für mich selbst und meine Situation sprechen. Denn ich kann die andere Seite auch verstehen, da man sich nie sicher sein kann, wie das Gegenüber reagiert.

War es eine bewusste Entscheidung von Deiner Seite mit der Erkrankung an die Ă–ffentlichkeit zu gehen?

Eigentlich war es mehr ein Prozess, der dazu geführt hat. Den ich vielleicht auch etwas blauäugig begonnen habe. Ich hatte keine schlechten Erfahrungen mit dem offenen Umgang, also dachte ich mir: „Ich habe keinen Grund meine Erkrankung zu verschweigen.“. Am Ende hat es bei mir gut funktioniert.

Es hätte aber auch anders kommen können, denn es gibt immer noch viele Vorurteile gegenüber MS-Erkrankten. Mir passiert es zum Beispiel manchmal, dass ich mit einem Behindertentransporter vom Bahnhof abgeholt werde. Nach dem Motto: „Ich habe MS, also muss ich im Rollstuhl sitzen!“. Das ist das Bild was die Menschen immer noch von MS haben. Das Erstaunen ist dann groß, wenn es nicht bei jedem Betroffenen so ist. Zu Anfang war es eine komische Situation, aber inzwischen gehe ich damit recht locker um. Ich erkläre es den Leuten und überlasse ihnen die Entscheidung wie sie damit umgehen.

Das ist ein Punkt, der mir wichtig ist: Man muss auch egoistisch sein und sich an die erste Stelle setzen. Damit meine ich, dass man zunächst für sich selbst mit der Erkrankung im Reinen sein muss, bevor man daran denkt, anderen helfen oder auf andere Rücksicht nehmen zu wollen.

Stammen Deine Ideen fĂĽr Deine Zeichnungen von Deinen eigenen Erfahrungen, die Du mit der MS gemacht hast?

Am Anfang waren es größtenteils meine Erfahrungen, die ich gezeichnet habe, um meine eigene Krankheit zu verarbeiten. Dann kamen immer mehr Anfragen, auch von Menschen mit anderen Erkrankungen, die mich baten, ihre Problematiken auch zu thematisieren. Das ist Kritik, mit der ich sehr gut leben kann und die ich dann aufgegriffen habe. Manche Ideen entstammen auch meiner Fantasie.

Gibt es neben Deiner Therapie noch andere MaĂźnahmen, mit denen Du der MS begegnest?

Ich bin so weit es geht sportlich aktiv, fahre Fahrrad und mache Physiotherapie. Ich ernähre mich gesund, aber ohne mich zu sehr einzuschränken. Letzten Endes versuche ich ein gesundes Leben zu führen, aber ohne Verzicht, wenn er nicht sein muss. Ich will mein Leben genießen und mich nicht der Krankheit unterordnen. Natürlich behalte ich die MS im Kopf, aber ich richte nicht meinen gesamten Tagesablauf nur danach aus.

Wie sehen Deine Pläne für die Zukunft aus?

Ich habe aktuell viele Projekte auf dem Tisch, die mich sehr interessieren. Aber ich habe keinen genauen Fahrplan, den ich Punkt für Punkt abarbeiten will. Ein Langzeitwunsch von mir als Comiczeichner ist naturgemäß ein eigener Comic. Das ist allerdings eine Aufgabe, die eine längere Auszeit braucht. Da kann man nicht etwas anderes nebenbei machen.

Für meine Gesundheit wünsche ich mir, dass es weiterhin so stabil bleibt. Und selbstredend auch die Einschränkungen nicht größer werden. Damit ich meinem Leben und Beruf weiter so wie ich es möchte nachgehen kann.

Gibt es etwas, das Du anderen Betroffenen, die vielleicht erst vor kurzem ihre Diagnose bekommen haben, mit auf den Weg geben wĂĽrdest?

Ich habe einen Lieblingsspruch, der mir sehr wichtig ist: „Mein Recht auf schlechte Laune!“. Wer mich nur kurz kennt oder im Vorbeigehen sieht, wirft mir manchmal vor, dass ich grimmig bin. Natürlich kann ich auch anders. Ich halte nur nichts von aufgesetzter Positivität und erzwungenem Lächeln. Ich habe eine Krankheit und wenn es mir schlecht geht, dann will ich mich deswegen nicht verbiegen. Das finde ich auch wichtig, dass man das zum Ausdruck bringt. MS ist eine ernste Erkrankung, die man nicht auf die leichte Schulter nehmen sollte.

Aber sie sollte einen auch nicht davon abhalten die eigenen Träume umzusetzen. Hätte ich damals auf meinen Arzt gehört, dann würde ich jetzt vielleicht kreuzunglücklich in einem Job sitzen, der mich nicht erfüllt und damit womöglich auch meiner Gesundheit schadet. In meinem Fall ist es vielleicht leicht gesagt, aber es läuft trotzdem darauf hinaus, dass man immer im Rahmen der eigenen Möglichkeiten seine Wünsche und Lebensziele, solange es geht, versuchen sollte umzusetzen.

Vielen Dank, Phil, dass du uns an deiner Geschichte teilhaben lässt!


DE-NONNI-00241 (07/2022)