Die Zusammenhänge zwischen BHS, ZNS und MS aus dem Blickwinkel eines Neurologen
Dr. med. Klaus Gehring ist Facharzt für Neurologie sowie für Psychiatrie und Psychotherapie im Neurozentrum am Klosterforst in Itzehoe, wo er mehr als 1.000 Patienten mit MS betreut. Außerhalb seiner ärztlichen Tätigkeit in der Praxis ist er Mitglied in diversen Fachgesellschaften. Hier ist Dr. Gehring unter anderem Vorsitzender im Bundesverband Deutscher Nervenärzte und engagiert sich stark in der neurologischen Gemeinschaft.
Im 3. Teil unserer Interviewserie sprechen wir mit Dr. Gehring ĂĽber die Bedeutung der Blut-Hirn-Schranke bei MS.
Insbesondere bei der Therapie von Betroffenen mit einer sekundär progredienten MS-Verlaufsform kann die Blut-Hirn-Schranke eine entscheidende Rolle spielen
Die Blut-Hirn-Schranke spielt bei der MS eine bedeutende Rolle. Können Sie uns diese bitte kurz erläutern?
Dr. Gehring:
MS ist eine Autoimmunerkrankung, bei der sich das Immunsystem gegen den eigenen Körper wendet. Bei der MS ist der genaue Auslöser noch nicht bekannt. Jedoch sind die Mechanismen, die zur Schädigung des zentralen Nervensystems (ZNS) durch MS führen in vielen Teilen gut aufgeklärt.
So weiß man, dass sich im Blut befindende Lymphozyten aktiviert werden und das ZNS bei MS-Betroffenen angreifen. Die Aktivierung von Lymphozyten funktioniert dadurch, dass die inaktiven Immunzellen mit Antigenen, d. h. Fremdmolekülen z. B. von Krankheitserregern, in Kontakt kommen. Daraufhin setzt eine Immunreaktion ein, die im Idealfall mit der Neutralisation dieser Krankheitserreger endet. Ein gesundes Immunsystem hat Wege autoantigenerkennende Immunzellen auszusortieren. Also Zellen, die körpereigene Moleküle als fremd wahrnehmen und von diesen aktiviert werden. Bei Autoimmunerkrankungen gibt es verschiedene Ursachen, die auch nicht in allen Fällen vollständig verstanden sind, aber dazu führen, dass diese Zellen körpereigene Strukturen angreifen.
Auch im Fall von MS sind es solche fehlgeleiteten und aktivierten Lymphozyten, die zu Entzündungen und über weitere Mechanismen zur Demyelinisierung führen. Zu Beginn der MS erfolgt die Aktivierung üblicherweise im Blut, also außerhalb des Gehirns. Die fehlgeleiteten Zellen können jedoch auch die Blut-Hirn-Schranke, die als Schutzbarriere des Gehirns fungiert, durchdringen. Nervenzellen werden durch Demyelinisierung geschädigt, wodurch die Signalweiterleitung nicht mehr oder zumindest nicht mehr optimal funktionieren kann und die MS typischen Symptome treten auf. Durch Remyelinisierung kann die Myelinschicht zwar bis zu einem bestimmten Grad wieder hergestellt werden, aber irgendwann kommt es bei diesem Kreislauf aus Schädigung und Reparatur an einen Punkt, an dem der Nerv irreparabel beeinträchtigt ist. Immer vorausgesetzt, dass der Kreislauf nicht, z. B. durch die erfolgreiche Wirkung einer Therapie, unterbrochen wird.
Im Grunde gehen wir bei der MS von einem bekannten Erkrankungskonzept aus. In den meisten Fällen beginnt die Erkrankung mit der schubförmig remittierenden Verlaufsform, RRMS, und geht danach über in die sekundär progrediente Verlaufsform, SPMS. In der Transitionsphase zwischen schubförmiger und sekundär progredienter MS kann man noch Schübe detektieren. Bei wenigen Betroffenen liegt bereits bei Erkrankungsbeginn ein progredienter Verlauf vor, man spricht dann von einer primär progredienten MS, PPMS.
Bei der RRMS liegt die Situation vor, wie ich sie bereits beschrieben habe. Nämlich, dass die Schutzfunktion der Blut-Hirn-Schranke nicht mehr vollständig gegeben ist und fehlgeleitete Immunzellen diese durchdringen können. Im Übergang zum sekundär progredienten Verlauf gehen wir heute davon aus, dass die Entzündung im Gehirn hinter einer intakten Blut-Hirn-Schranke stattfindet, ausgehend von dort angesammelten so genannten Lymphfollikeln, und sich weiter ausbreitet. Dieses Krankheitskonzept erklärt auch, weshalb ein Versuch, die Blut-Hirn-Schranke mittels Kortison abzudichten, wie man es zur Schubbehandlung bei RRMS durchführt, nicht mehr wirksam ist. Zusätzlich sind wir in diesem Erkrankungsstadium oft damit konfrontiert, dass eine akute Entzündung sich nicht mehr durch Gadolinium-Aufnahme in der Kernspintomographie identifizieren lässt. Grundlage einer Gadolinium-Aufnahme wäre ja eine gestörte Blut-Hirn-Schranke.
Damit stellt uns die Erkrankung aber vor eine Herausforderung in Bezug auf die Wirkung der uns zur VerfĂĽgung stehenden Therapien,insbesondere bei der SPMS, da aktuell nicht alle Wirkstoffe dazu in der Lage sind die intakte Blut-Hirn-Schranke zu passieren.
Viele aktuelle Therapien haben ihre größte Wirkung zu Beginn der MS, wenn die Blut-Hirn-Schranke noch geöffnet ist
Merck:
Vielen Dank. Ist denn die Bedeutung der Blut-Hirn-Schranke dadurch für Sie auch ein Kriterium, auf das Sie bei der Therapieauswahl achten? Wäre es für ein Medikament von Bedeutung seine Wirksamkeit im ZNS-Kompartiment selbst zu entfalten?
Dr. Gehring:
Das wäre ideal. Wir haben aktuell zwar Therapien, deren Zulassungen auch die sekundär progrediente MS umfassen, aber die Hauptwirkung der aktuellen Therapien ist nach wie vor antientzündlich. Es sind aber nicht nur die Entzündungen, die hier zum Krankheitsgeschehen beitragen. Aber selbst, wenn wir nur die Entzündungen allein in den Fokus stellen, finden diese hinter einer intakten Blut-Hirn-Schranke direkt im Gehirn statt. Damit kommen Wirkstoffe, die aus der Peripherie, also außerhalb der Blut-Hirn-Schranke, zirkulieren und diese nicht passieren können an ihre Grenzen. Das ist ein Forschungsfeld, das noch dringender Aufmerksamkeit bedarf.
Eine solche antientzündliche Wirkung aus der Peripherie hat zu Beginn der MS die größte Wirkung, wenn die Wirkstoffe die Blut-Hirn-Schranke passieren können. Mit anderen Worten, je früher die aktuellen Therapien eingesetzt werden können, desto wahrscheinlicher ist es, dass das Fortschreiten der MS gestoppt oder zumindest verzögert werden kann. In entsprechenden Fällen sogar dem "Hit-hard-and-early"- Prinzip folgend.
Das zu erkennen gehört auch zu unseren Aufgaben. Und auch das muss so früh wie möglich geschehen, damit dem Patienten so viele Funktionen wie nur möglich erhalten bleiben. Denn wenn die Entzündung erstmal ausschließlich im Hirngewebe angekommen ist, kommen auch die hochaktiven antientzündlichen Substanzen an ihre Grenzen. Das Beste, das wir aktuell haben, sind Theorien, dass manche Substanzen vielleicht auch einen zentralen Ansatz haben. Das macht die Forschung in diesem Bereich um so notwendiger.
Selbstverständlich setzen wir jede Therapie im besten Sinne des Patienten ein, insbesondere geht es immer wieder darum, neu und individuell das Risiko einer weiteren Krankheitsaktivität gegen das potentielle Risiko einer Therapie abzuwägen. Die Passage der Blut-Hirn-Schranke ist dennoch einer der Faktoren, die uns wie gesagt vor eine Herausforderung stellen können und entsprechend berücksichtigt werden müssen. Denn aktuell gibt es leider kein „one fits all“-Präparat, weder bezogen auf die Erkrankung noch auf die Patienten.
DE-NONNI-00240 (09/2022)