Meine MS begann mit einer Sehstörung und Kopfschmerzen

Wann hast Du Deine MS Diagnose bekommen?

Das war 2009 nach meiner ersten Anstellung. Ich habe damals bei einer Unternehmensberatung gearbeitet und war noch in der Probezeit. Das war genau die Zeit der großen Beraterkriese, in der viele Menschen ihre Arbeit verloren haben. Ich war eine von ihnen, wie ich erfahren sollte. Mich hat das sehr getroffen, da es nach dem Studium mein erster Job war. Mitten in diesem Personalgespräch, direkt nachdem ich von meiner Entlassung erfahren habe, hat sich mein Kopf angefühlt als würde jemand ein Messer hineinstechen. Dieser Schmerz ist in den nächsten Tagen immer schlimmer geworden. Besonders wenn ich das Büro betreten habe. Es ging so weit, dass ich es im Büro nicht mehr ausgehalten habe und meine ohnehin ablaufende Anstellung frühzeitig beendet habe.

Bald darauf habe ich auch plötzlich auf einem Auge schlechter gesehen, bin aber trotzdem zu meinem Freund, mittlerweile Mann, in die USA geflogen. Dort habe ich mehrere Wochen verbracht und mir eine neue Brille geholt, weil ich dachte, dass die Sehstörung daherkommt. Die Kopfschmerzen kamen und gingen währenddessen in verschiedenen Stärkestufen, die Sehstörung wurde aber immer stärker. Das ging so weit, dass ich nach unserer Rückkehr nach Deutschland mit diesem Auge nicht mehr lesen konnte. Und die Schmerzen wurden so schlimm, dass auch Schmerzmittel nicht mehr geholfen haben.

Mein Mann, hat mich dann mehr oder weniger in eine Augenklinik geschleppt, die mich wiederum sofort in die Uniklinik überwiesen hat. Mit der Verdachtsdiagnose Sehnerventzündung. In der Uniklinik wurde ich untersucht und mit Kortison behandelt. Das hat geholfen, aber eine abschließende Diagnose gab es nicht.

Die kam erst ein paar Wochen später. In der Uniklinik wurde mir empfohlen mir einen niedergelassenen Neurologen zu suchen, der mich weiterbehandelt. Das habe ich getan und auch vor dem ersten Termin ein MRT machen lassen. Heute lache ich zwar drüber, aber damals war es das Gegenteil von lustig. Das erste Gespräch mit dem Neurologen hat keine fünf Minuten gedauert. Der erste Satz war: „Sind Sie verheiratet?“, das habe ich verneint und dann sagte er aus dem Nichts, dass er viele Patienten habe, die auch ein ganz normales Familienleben mit Kindern führen. Ich saß nur da und habe nicht verstanden was los ist. Ich war ja nur wegen meinem Auge da. Bis er dann sagte, dass ich eine chronische Entzündung meines Nervensystems habe, mir ein paar Broschüren an die Hand gab und mich entließ.

Das war der Moment, an den ich mich noch, wie in einer Diashow, erinnern kann. Ich habe meine Diagnose vom Titel der Broschüre abgelesen: Multiple Sklerose.

Mein Mann hat mir danach einen Spezialisten rausgesucht, bei dem ich mich dann deutlich besser aufgehoben gefühlt habe und der mich auch jahrelang behandelt hat. Wir stehen sogar heute noch, auch in seinem Ruhestand, in Kontakt.

Wie bist Du mit der Diagnose umgegangen?

Das ist das Irritierende. Ich habe mich trotz dieses Erlebnisses gefreut zu wissen was ich habe. Dass es einen Namen hat! Bis zu meiner Diagnose kannte ich MS nicht. Ich wusste also nach der Diagnose auch nicht was mich erwartet und womit ich es zu tun habe. Entsprechend sahen meine Vorstellungen, wie es danach weiter geht, aus. Im Grunde habe ich den klassischen Trauerprozess durchlaufen. Angefangen mit Verdrängung.

Dieser Prozess hat sich bei mir über Jahre hingezogen, bis ich endlich akzeptiert habe, dass diese Erkrankung für mich Realität ist. Entsprechend lange habe ich mich auch geweigert mich in psychologische Behandlung zu begeben, denn ich hatte ja nichts. Es passte schlichtweg nicht in mein Lebensbild, das ich krank sein könnte. Ich war mein Leben lang leistungs- und karriereorientiert. Ich hatte immer gute Noten, habe zwei Fächer gleichzeitig studiert, promoviert. Immer 120% gegeben. In meinem damaligen Leben hatten Krankheiten keinen Platz.

Was hat sich in Deinem Leben nach der Diagnose im Vergleich zu davor geändert?

Ich bin heute glückliche Mutter von drei Töchtern und glaube, ich hätte ohne die MS nicht so früh Kinder bekommen und definitiv nicht so viele. Vor der Diagnose war ich wie gesagt zu 100 % auf meine Karriere fokussiert. Dieser Schwerpunkt in meinem Leben hat sich definitiv geändert. Die Erkenntnis hat viele Jahre gedauert, aber am Ende habe ich erkannt, was für mich im Leben wirklich zählt. Dass die Jagd nach der nächsten Karriereleitersprosse und Gehaltserhöhung mir nicht die Erfüllung bringt, die ich mir erhofft habe. Davon bin ich inzwischen meilenweit weg. Heute glaube ich deutlich mehr, meine Mitte gefunden zu haben. Es ist nicht so, dass ich dankbar dafür bin, erkrankt zu sein, aber ich bin der festen Überzeugung, dass ich diese Erkenntnis ohne die MS nicht oder zumindest erst deutlich später gehabt hätte.

Etwas das sich in den letzten Jahren sehr viel für mich geändert hat ist das Wissen, dass ich mir rund um die MS angeeignet habe. Ich habe inzwischen Fortbildungen in den Bereichen Ernährungswissenschaften und Neurologie an renommierten Universitäten gemacht, um die Erkrankung besser zu verstehen. Aufgrund dieses Wissens habe ich Wege gefunden mit meiner MS umzugehen und meine Therapie zu unterstützen.

Neben meiner Therapie begegne ich der MS auch mit veganer Ernährung und Sport

Wie hat sich Dein Alltag mit der MS verändert und welche Strategien hast Du für Dich gefunden damit umzugehen?

Zu Beginn meiner Erkrankung hatte ich sehr viele Schübe und auch sehr häufig Fatigue. Das war vor allem während meiner Dissertation besonders belastend. Ich habe mir jeden Tag gegen Mittag mehrere Kaffee geholt und auch nur noch simple Aufgaben gemacht, weil ich zu mehr nicht fähig war. Dann kamen noch andere Symptome hinzu: weitere Sehnerventzündungen, Lähmungen, Taubheitsgefühle. In diesem Zeitraum hatte ich teilweise sehr viele Schübe. Das war aber auch genau zu der Zeit als ich meine MS noch verleugnet hatte. Ich habe mir selbst eingeredet, dass die Symptome gar nicht so schlimm sind und habe dann noch mehr Gas gegeben, wenn ich gerade wieder fit war.

Die größte Veränderung kam mit meiner Familie. Ich habe meine beiden ältesten Töchter relativ kurz hintereinander bekommen. Und schätze mich glücklich, bei beiden sowohl während der Schwangerschaft als auch der Stillzeit schubfrei gewesen zu sein. In den Jahren unmittelbar danach, war Überhitzung das größte Problem für mich. Zum Sport bin ich dann zum Beispiel mit einer Kühlweste gegangen.

Genau zum ersten Lockdown habe ich meine dritte Tochter bekommen. Auch hier lief alles glücklicherweise reibungslos. Nach dem Stillen gab es wieder Verschlechterungen und ich habe eine neue Therapie begonnen. Aktuell fühle ich mich damit sehr wohl.

Ich merke jedoch, dass ich auf mich achten muss, denn ich bin nicht mehr so belastbar wie früher. Damit komme ich aber, u. a. durch meine Selbstständigkeit, gut zurecht. Sie erlaubt mir, mir die Tage selbst einzuteilen. Besonders wichtig ist das an den Tagen, an denen es mir nicht so gut geht.

Wenn man das in Relation betrachtet, habe ich physisch bisher sehr viel Glück gehabt mit meiner MS. Ich treibe inzwischen viel mehr Sport als vor der Diagnose. Ich gehe zum Spinning, fahre sehr häufig mit dem Fahrrad und spiele Tennis. Auch an meiner Ernährung habe ich gearbeitet, um rauszufinden was mir persönlich guttut. In meinem Fall ist das eine vollwertig pflanzliche Ernährung. Wobei man erwähnen muss, dass mir das nicht allzu schwerfiel, da ich mich schon vor der Erkrankung vegetarisch ernährt habe.

Zusätzlich habe ich vor vielen Jahren auch begonnen Stress zu reduzieren, zu meditieren und war auch lange Zeit in Therapie, um die Diagnose zu verarbeiten und den Umgang damit zu lernen. Das hat mir dabei geholfen von dem Leistungsgedanken, den ich ja vor der Erkrankung hatte, wegzukommen. Einzusehen, dass ich auch schwach und hilfsbedürftig sein darf. Das war ein echter Meilenstein für mich.

Heute lebe und vor allem genieße ich meine Freizeit bewusst. Die MS hat mich entschleunigt und fokussiert. Was ich für mich als Glück empfinde, auch wenn ich gerne auf die Krankheit verzichtet hätte.

Ich musste erst verstehen was MS ist, bevor ich sie akzeptieren konnte

Gibt es ein Erlebnis, dass bei Dir einen besonderen Eindruck hinterlassen hat?

Während meiner Verdrängungsphase wurde ich zu den Lindauer Nobelpreisträgertagungen eingeladen. Zu diesem Ereignis werden alle vier Jahre 400 Nachwuchsforscher eingeladen, um die Nobelpreisträger aus dem jeweiligen Fachgebiet zu treffen. Das war eine große Ehre für mich, ein wahrgewordener Traum. Der Höhepunkt dieser Veranstaltung war für mich das Dinner mit meinem persönlichen Helden, John Forbes Nash Jr..

Die zwei Wochen davor war ich viel beruflich unterwegs, größtenteils international. Ich stand also stark unter Stress. Als Ergebnis bin ich am Morgen der Veranstaltung mit einem gelähmten Arm aufgewacht. Mein erster Gedanke war: „Das kann es nicht sein!“. So saß ich dann beim Dinner und konnte nur mit einer Hand essen. Das war sehr unangenehm. Ich habe mich gefühlt als hätte ich auf diesen Punkt hingearbeitet und versagt. Als wäre mein Traum einfach geplatzt.

Aber letzten Endes bin ich dennoch hingegangen und habe mich durchgekämpft. Heute würde ich diese Erfahrung um nichts in der Welt wieder hergeben. Das war eine Art Wendepunkt für mich, an dem ich mir gesagt habe, dass es so nicht weiter gehen kann und ich habe angefangen mich in das Thema Multiple Sklerose einzuarbeiten.

Wie hat Dir das Auseinandersetzen mit der MS geholfen?

Die Verarbeitung der Diagnose war ein sehr langsamer Prozess und ich habe lange gebraucht, bis ich begriffen habe, dass es mich unglaublich gestresst hat keinen Einfluss auf die Krankheit zu haben. Ich kam mir teilweise ausgeliefert vor.

Diesem Gefühl des Kontrollverlusts wollte ich entgegenwirken. Und die Auseinandersetzung mit dem Thema hat mir dabei geholfen. Mit jedem Stück Wissen, dass ich so aufgebaut habe, kam für mich ein Aha-Moment. Vor allem weil auch die Forschung immer weiter voranschreitet und ich dieses Wissen für mich nutzen und anwenden kann. Das hat mir Kraft gegeben, vor allem psychisch.

Über die MS wusste meine Familie von Anfang an Bescheid, beruflich war es deutlich schwieriger

Wann hast Du Deiner Familie und deinen Freunden von Deiner Diagnose erzählt?

Meine Familie hat es bereits erfahren, als ich noch im Krankhaus zur Untersuchung war. Meine Freunde noch am gleichen Abend nach der Diagnose. Das aber eher aus der Situation heraus, da wir an dem Abend alle verabredet waren. Somit war mein privates Umfeld von Anfang an gleich eingebunden. Leider hat sich mit der Zeit herausgestellt, dass nicht alle mit meiner Erkrankung umgehen konnten. Das waren nicht viele und ich muss zugeben, dass ich diesen Freundschaften auch nicht nachtrauere. Alle anderen waren und sind verständnisvoll und unterstützen mich, wo es geht. Obwohl ich, gerade während meiner Trauerphasen nach der Diagnose, nicht immer einfach war.

Wie sahen Deine Erfahrungen im beruflichen Umfeld aus?

Leider waren diese für mich nicht immer positiv. Ich habe aufgrund meiner Erkrankung zum Teil nur befristete Arbeitsverträge bekommen, der kürzeste ging nur über einen Monat. Ich hatte aber das Glück, dass diese Stelle sowieso ein natürliches Ende hatte und ich damit keinen großen Kampf ausfechten musste.

In einer anderen Anstellung traf es mich leider schwerer. Zu dem Zeitpunkt fiel ich leider öfter aus. Nach einem solchen Ausfall, bei dem ich eine Dienstreise nicht antreten konnte, sollte mein Arbeitsverhältnis auf eine freiberufliche Basis umgestellt werden. Zur anschließenden Zusammenarbeit kam es dann aber leider nie. Nach diesem Erlebnis habe ich meine MS für lange Zeit im beruflichen Umfeld verschwiegen und war eigentlich nur noch freiberuflich tätig.

Letzten Endes bin ich froh aus diesem extrem leistungsorientierten Umfeld, in dem Krankheit generell als Problem wahrgenommen wurde, raus zu sein. In meinem jetzigen Umfeld wissen fast alle Bescheid, dass ich MS-Betroffene bin und ich hatte auch nie wieder ein Problem damit. Durch meine aktuelle Arbeit habe ich Freiheiten, die ich damals nicht gehabt hatte.

Du hast Dich vor kurzem öffentlich als MS-Betroffene zu erkennen gegeben. Wie kam es dazu und wie sahen die Reaktionen darauf aus?

Ein initialer Anstoß kam damals von meiner Therapeutin, die mir geraten hat, zu schauen, ob ich mich nicht auch für andere MS-Betroffene einsetzen kann und will. Das war für lange Zeit in meinem Kopf, bis ich gemerkt habe, dass ich das wirklich machen möchte.

Der zweite Grund war, dass ich von meiner kognitiven Dissonanz Abstand nehmen wollte. Ich habe so viele Jahre einen wesentlichen Teil meines Lebens in meinem beruflichen Umfeld verleugnet. Das hat mir psychisch nicht gutgetan.

Beides hat sich irgendwann so in mir hochgeschaukelt, dass ich mit meiner Erkrankung über Social Media an die Öffentlichkeit gegangen bin. Trotzdem hatte ich danach Bedenken und auch Angst vor den Konsequenzen. Ich habe nicht im Entferntesten mit dem gerechnet was dann kam.

Der Post ging viral und ich bekam eine Flut an Kommentaren, Feedback und Dank, jeder einzelne positiv. Ich saß den ganzen Tag vor dem Computer und habe versucht zu begreifen, was gerade passiert. Das war ein bestärkender Moment für mich und ich weiß, dass ich das Richtige gemacht habe.

Gerade durch die beruflichen Freiheiten, die ich aktuell genieße, bin ich froh die Chance ergriffen zu haben, um mich für Betroffene einzusetzen, die diese Freiheiten nicht haben. Mich damit auch aktiv gegen die Stigmatisierung der MS einzusetzen.

Ich möchte, solange es geht, arbeiten und mich bei Unternehmen für MS-Betroffene einsetzen

Wie sehen Deine Pläne für die Zukunft aus?

Hättet ihr mir die Frage vor 15 Jahren gestellt, hätte ich euch eine ganz genaue Antwort geben können. Da war mein Leben bis ins letzte durchgeplant. Heute lasse ich mich, insbesondere im Beruf, überraschen. Ich weiß, dass ich arbeiten will und auch gerne weiter in meinen aktuellen Schwerpunkten, aber letztlich schaue ich, wohin es mit treibt. Auch gerne weiter als One-Woman-Show.

Parallel will ich mich weiter in der MS-Community einsetzen. Mein Ziel ist es Unternehmen aufzuzeigen, dass chronisch kranke Mitarbeiter einen wertvollen Beitrag zur Arbeitnehmerschaft darstellen. Aber hier bin ich noch in der Orientierungsphase. Immer vorausgesetzt meine MS macht weiterhin mit.

Gibt es etwas, das Du anderen Betroffenen, die vielleicht erst vor kurzem ihre Diagnose bekommen haben, mit auf den Weg geben möchtest?

Ja, nämlich etwas, das mir damals nach meiner Diagnose gefehlt hat: MS ist keine Einbahnstraße! Es ist kein vorgezeichneter Weg, der für jeden nur bergab geht. Es gibt heute so viele Möglichkeiten was man medizinisch und auch begleitend machen kann. Besonders, wenn man sich damit aktiv auseinandersetzt und sich seine Mündigkeit bewahrt. Man kann selbst aktiv werden, die Ärzte mit einer positiven Zusammenarbeit unterstützen und auch mit MS ein zufriedenes und gutes Leben führen. Vielleicht sieht dieses Leben anders aus, als man es sich vor der Diagnose vorgestellt hat, aber man kann trotzdem eine Familie haben, erfolgreich und glücklich sein.

Vielen Dank, Claudia, dass du uns an deiner Geschichte teilhaben lässt!


DE-NONNI-00223 (06/2022)

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