Wann hast Du die ersten MS-Symptome bemerkt?

Ich kann heute zwei Zeitpunkte ausmachen, an denen mir bewusstwurde, dass etwas nicht stimmt. Das erste Ereignis war Anfang 2017 am Faschingssamstag beim Feiern. Ich hatte extreme Schwierigkeiten mit dem Laufen und ein seltsames Gangbild. Wahrscheinlich sah es für die meisten Leute um mich herum so aus, als sei ich betrunken und könne deshalb nicht mehr richtig laufen. Dabei hatte ich kaum etwas getrunken und ahnte schon, dass etwas nicht stimmt.

Das zweite Erlebnis, das ich auch erst rückblickend als solches sehe, war knapp eine Woche vorher beim Skifahren. Ich hatte plötzlich extreme Probleme, mich auf den Beinen zu halten, und musste mich sehr oft abstützen. Ich habe die Schuld bei mir gesucht und mir selbst gesagt, ich müsse mich zusammenreißen. Mir war es da noch nicht bewusst, aber wenn ich daran zurückdenke, hatte ich schon bemerkt, dass mein Fuß häufiger mal wie eingeschlafen war. Es hatte mich bisher nicht so beeinträchtigt, es war eher das klassische Kribbeln. Aber es ließ oft über längere Zeit nicht nach. Dennoch dachte ich: Ja es wird schon nichts Schlimmes sein. Nach dem Faschingswochenende war mir dann aber klar, dass das alles zusammenhängen muss.

Wann wurde dann bei Dir die Diagnose Multiple Sklerose gestellt und wie kam es dazu?

Ein guter Freund von mir, der an Fasching dabei war, hat mich dazu gedrängt, zum Arzt zu gehen. Er kannte meine vorherigen Beschwerden und hatte einen Verdacht. Ich bin noch am Rosenmontag zum Arzt gegangen. Der konnte nicht viel machen und hat mich wieder weggeschickt. Ich bin anschließend zu meinem Arzt gegangen und der schickte mich sofort ins Krankenhaus. Ich habe selbst dann noch alles heruntergespielt, bin auch noch selbstständig ins Krankenhaus gefahren. Doch dort kam ich sofort in die ambulante Neurologie. Man hat an meinem Gangbild schon gesehen, dass da irgendetwas war.
Da sich im MRT bereits einige aktive Entzündungen zeigten, habe ich erst einmal eine sehr hohe Dosis Kortison bekommen. Alles in allem ging es nach dem Fasching-Vorfall recht schnell. Ich war ein bis zwei Wochen im Krankenhaus und im Anschluss nach kurzer Pause in Reha. Aber es hätte auch anders kommen können. Ich wäre nicht zum Arzt gegangen, wenn mein Freund mich nicht dazu gedrängt hätte. Die Beschwerden wären dann wahrscheinlich erst einmal wieder abgeklungen und ich hätte es wieder abgetan.

MS ist die Erkrankung der 1.000 Gesichter. Welche weiteren Symptome zeigen sich bei Dir?

Am stärksten ist bei mir die Müdigkeit. Diese Fatigue gehört zu den Dingen, die ich vorher nicht wahrhaben wollte und immer weggeschoben habe. Nach einem späteren Schub war meine linke Hand kurzzeitig komplett unbrauchbar. Das hat sich zwar weitestgehend zurückgebildet, Gefühlsstörungen sind aber geblieben. Das merke ich auch in meinem Beruf – ich bin Fluggerätemechaniker bei der Bundeswehr. Ich habe zwar keine Schmerzen und auch die Kraft ist da. Aber es fühlt sich einfach anders an. Wenn ich zum Beispiel in einer Tasche, in der mehrere Gegenstände liegen, etwas Bestimmtes greifen will, kann ich mit der linken Hand nicht erfühlen, ob es nun der Autoschlüssel oder etwas anderes ist. Da ich Rechtshänder bin, habe ich gelernt, damit umzugehen. Mein „Endgegner“ sind aber Knöpfe am Hemd. Zum Zu- und Aufknöpfen brauche ich ja beide Hände. Das kann eine Weile dauern.

Wie hat die Diagnose MS Deinen Alltag verändert?

Nach der Reha habe ich mit der Therapie angefangen und mir ging es körperlich soweit gut. Auch die Gangart war wieder normal. Ich habe es erst einmal komplett versteckt und dafür gesorgt, dass möglichst niemand mitbekommt, dass ich MS habe. Das ging auch eine Weile gut.

Aber die Gedanken hörten nicht auf, die Begleitängste, was ich jetzt alles nicht mehr machen kann. Das fing schon nach der Diagnose an, und der Moment, als ich davon erfahren habe, war für mich ein Weltuntergang. Eigentlich hatte ich zu dieser Zeit zwei Skiurlaube geplant. Es war klar, dass die ausfallen müssen, aber ich habe mich gefragt, ob es dabei bleibt. Ich hatte mich nie mit dem Thema Multiple Sklerose beschäftigt und bin im Internet auf viele Informationen gestoßen, die meine Ängste noch verstärkt haben. Ich hatte die Befürchtung, dass mein ganzer Alltag aus dem Ruder läuft, habe mich schon im Rollstuhl gesehen und gedacht, ich kann nie wieder Skifahren oder Mountainbiken, da man bei beiden Sportarten das Gleichgewicht halten muss.

Außerdem hatte ich Angst, dass ich meinen Beruf nicht mehr richtig ausüben kann. Ich muss auf der Arbeit fokussiert sein und funktionieren. Ich dachte, wenn ich das jetzt anspreche, war es das für mich beruflich. So unter dem Motto: „Der hat jetzt MS, jetzt kann man den nicht mehr gebrauchen.“

Welche Strategien hast Du für Dich gefunden, mit diesen Ängsten umzugehen und Dir den Alltag mit MS zu erleichtern?

Für mich war es am wichtigsten, dass alles so normal wie möglich weiterläuft. Ich wollte, dass sich nichts ändert und man mir vor allem nicht anders begegnet. Dieses Verheimlichen hat es aber nur schlimmer gemacht und die Gedanken kamen erst recht in Fahrt. Heute gehe ich deshalb offener damit um.
Am Beispiel der linken Hand: Ich merke die Einschränkungen manchmal und kann das nicht hundertprozentig umgehen. Dann brauche ich eben mal länger für etwas oder es sieht ein bisschen komisch aus. Wenn man das weiß, dann kann man darauf reagieren oder es einfach verstehen und deshalb so stehen lassen.

Anstatt meine Hobbys aufzugeben, habe ich mich entschieden, noch intensiver Sport zu treiben. Ich habe dann zusätzlich das Klettern angefangen. Das geht auch mit meiner linken Hand, denn die Kraft ist ja da. Man entwickelt ein Gefühl dafür.
Ich setze mir immer höhere sportliche Ziele und starte neue Projekte. Ich genieße die Vorfreude auf solche Events. Zum Beispiel bin ich mit dem Fahrrad den Nordseeradweg von Hamburg bis nach Sylt gefahren. Es ist vielleicht keine riesige Strecke, aber für mich bedeutet es: einfach mal raus aus dem Alltag!

Natürlich muss ich inzwischen mehr aufpassen, muss mehr Pausen machen, vor allem an heißen Tagen. Mit Kälte habe ich kein Problem, damit geht es mir gut. Wenn ich merke, es wird zu viel, passe ich mich an. Es fühlt sich gut an, auf diese Weise die Erkrankung ein bisschen mehr unter Kontrolle zu haben.

Gab es ein Ereignis oder einen Menschen, das oder der Dich besonders inspiriert oder motiviert hat?

Ja, aber ein negatives, das dafür umso prägender war: Direkt nach der Diagnose im Krankenhaus kam eine Ärztin zu mir ins Zimmer. Ich habe sie freundlich angelächelt und dann sagte sie: „Sie haben ja immer so ein Lachen im Gesicht, dabei haben Sie doch gar nichts zu lachen.“ Sie wollte nur witzig sein, und ich habe ihr das erst auch nicht übelgenommen. Aber je länger ich darüber nachgedacht habe, desto mehr hat mich das beschäftigt und geärgert. Und dann kam der Gedanke auf: Ja, jetzt erst recht! Warum sollte ich nichts zu lachen haben? Abgesehen davon ist eine solche Aussage einem Patienten gegenüber einfach unpassend.

Welche persönliche Empfehlung möchtest Du anderen Betroffenen für den Umgang mit MS geben?

Ich finde einen offeneren Umgang mit der MS wichtig. Es sollte kein Geheimnis sein, dass man Multiple Sklerose hat. Ich glaube, vielen MS-Betroffenen geht es ähnlich wie mir: Sie möchten nicht darüber sprechen, weil sie Angst haben, dass sie dann anders behandelt werden oder dass es negative Konsequenzen hat. Aber heute weiß ich: Auch wenn man am liebsten den Alltag so normal wie möglich gestalten möchte, schließt das nicht aus, dass man offen über die Erkrankung redet. Man akzeptiert es selbst besser und macht es außerdem den anderen damit leichter.

Viele trauen sich ja gar nicht, das Thema anzusprechen und einen MS-Patienten nach der Erkrankung zu fragen. Es gibt so viel Unwissenheit und Mythen rund um die Erkrankung. Mir hat es geholfen zu sagen: „Wenn du Fragen hast, frag ruhig.“ Offenheit gibt Dir selbst und anderen auch die Möglichkeit, schnell zu reagieren, wenn sich der Zustand verschlechtert.

Außerdem sollte man nicht zu viel grübeln und an sich zweifeln. Das ist meistens unbegründet. Ich habe mich vor unserem Gespräch gefragt, ob meine Geschichte vielleicht „zu normal“ ist oder meine Projekte zu unspektakulär. Aber inzwischen denke ich, es geht darum, unseren Alltag mit MS zu beschreiben. Und der sieht bei jedem anders aus.

Vielen Dank für das Gespräch!

Mach mit!

Möchtest Du uns und anderen Betroffenen Deine Geschichte erzählen? Dann sende uns eine Direktnachricht bei Facebook oder Instagram. Wir freuen uns auf Dich!

DE-NONNI-00377, (01/2023)