Deine Geschichte beginnt schon lange vor der Diagnose MS, nämlich mit dem Herzen. Was hast Du erlebt?

Im Sommer 2003 hatte ich meinen ersten Herzstillstand und wurde ohnmächtig. Wegen Herzrhythmusstörungen und weiteren Symptomen, die man nicht genau zuordnen konnte, bin ich dann einen regelrechten Ärztemarathon gelaufen. Ich wurde insgesamt 15-mal operiert, und bis heute brauche ich dauerhaft einen Herzschrittmacher. Das war eine schwere Zeit, denn ich war häufig im Krankenhaus, musste aber trotzdem für meinen Sohn da sein. Er war damals acht oder neun Jahre alt und musste ständig mit der Angst leben, ob ich wieder nach Hause komme. Ich dachte mir, na toll, ich bin 29 Jahre alt, alleinerziehend und habe einen Herzschrittmacher. Wie soll ich das bloß alles schaffen? Ich bin damals in jede OP gegangen mit dem Wissen, ich muss wieder nach Hause und einfach weitermachen. Das ist bis heute meine Devise: Weitermachen, weitermachen! Danach hatte ich ein paar Jahre Ruhe, in denen ich mich regenerieren konnte. Ich dachte wirklich, das reicht auch schon an Schicksalsschlägen für ein Leben. Aber dann kam das Jahr 2016.

Was passierte dann?

Mein Sohn zog im Alter von 19 Jahren mit seiner Freundin zusammen. Heute ist er 24 und hat eine eigene Familie. Plötzlich lebte ich allein und bin in ein tiefes Loch gefallen – wahrscheinlich auch, weil die Zeit während der Herzbehandlung so prägend war. Ich hatte so viel Verantwortung, dass es mir schwerfiel, loszulassen und ab sofort an mich zu denken. Ich habe mir dann echte Sinnfragen gestellt. Was mache ich denn jetzt? Was will ich, und wer bin ich überhaupt? Da habe ich zum ersten Mal Symptome bemerkt, die ich seltsam fand. Heute glaube ich, durch dieses Loslassen haben sich Symptome gezeigt, die vielleicht schon 20 Jahre da waren. Ich habe die immer ignoriert, ich hatte genug zu tun mit meinem Sohn und meinem Herzen.

Ich wurde aufgrund einer schweren Depression drei Monate stationär untergebracht. Dort habe ich dann gespürt, dass etwas mit meinem Gehirn nicht in Ordnung ist. Ich habe gespürt: das bin nicht ich. Das ist nicht einfach nur Trauer, das ist etwas Fremdes. Ich wollte ein MRT machen lassen, was mir aufgrund meiner Herzschrittmacherabhängigkeit verweigert wurde. Es wurde also ein CT gemacht, auf dem angeblich nichts zu sehen war. Mir wurde vermittelt, meine Symptome sind psychosomatisch und gehen auf die Trauer zurück. Das war die Hölle für mich, und es hat mein Vertrauen in Ärzte erschüttert. So habe ich mich in Therapie begeben, und die folgenden zwei Jahre wurde ausschließlich meine Psyche behandelt. Es dauerte, bis ich wieder richtig fühlen konnte. Ich glaube, wenn ich keinen so starken Überlebenswillen gehabt hätte, wäre ich daran zerbrochen. Mit meiner Therapeutin arbeite ich heute noch zusammen. Mit ihr hatte ich großes Glück. 2018 habe ich meinen Partner kennengelernt. Eine Zeit lief es wirklich gut bei mir. Doch dann kam die MS.

Hilfe bei Depressionen

Wenn Du den Verdacht hast von Depressionen oder anderen psychischen Beschwerden betroffen zu sein, informiere Dich am besten bei Deinem Arzt oder einem Psychotherapeuten über professionelle Behandlungsmöglichkeiten. In Notfällen gibt es Krisendienste, die Du zur akuten Hilfe in Anspruch nehmen kannst:


  • Der Sozialpsychiatrischen Dienst bietet in vielen Städten Hilfe für Menschen mit psychischen Erkrankungen und deren Angehören an. Die Kontaktdaten zu Deinem nächstgelegenen Sozialpsychiatrischen Dienst erhältst Du vom Gesundheitsamt oder über eine Internetsuche „Sozialpsychiatrischen Dienst + Dein Wohnort“.
  • Das Info-Telefon Depression 0800 – 33 44 533 (Mo, Di, Do 13 – 17 Uhr; Mi, Fr 08:30 – 12:30 Uhr) ist ein Angebot der Deutschen Depressionshilfe und bietet Krankheitsbezogene Informationen, sowie Hinweise zu Anlaufstellen.

Wann zeigten sich bei Dir die ersten MS-Symptome?

Im April 2019 ging es bergab. Ich hatte gerade eine Operation am Fuß überstanden. Dann bekam ich die Diagnose Gebärmutterhalskrebs und musste schnellstmöglich operiert werden. Danach habe ich aber weitere Symptome bemerkt. Meine Kräfte ließen nach, und ich hatte direkt Angst, dass die Depression wieder losgeht. Hinzu kamen Sensibilitätsstörungen. Meine Fingerspitzen fühlten sich oft nass an, und das ging einfach nicht weg. Es wurde immer schlimmer, zog den Arm hoch, bis ins Gesicht. Ich habe das erst einmal ignoriert. Als der Schwindel kam, dachte ich, das wird eine Verspannung im Nacken sein. Ich habe mir für alles eine Erklärung zurechtgelegt, denn ich dachte, dann geht es wieder weg. Ich dachte, das ist wieder die Psyche und dass ich mir das einbilde.

Wann wurde schließlich die Diagnose gestellt?

Ich war Mitte August 2019 mit meinem Partner im Auto unterwegs. Plötzlich habe ich beim Sprechen angefangen zu Lallen. Ich habe es selber gemerkt, konnte es aber nicht steuern. Wir haben direkt an einen Schlaganfall gedacht und sind sofort ins Krankenhaus gefahren. In der Notaufnahme hat die zuständige Neurologin den Verdacht auf MS geäußert. Es wurde also ein CT veranlasst.

Und dieses Mal waren Auffälligkeiten auf den Bildern zu sehen. Kurz vor dem Verlassen des CT-Raumes rief mich der Radiologe mit einem lauten „Stopp“ über Lautsprecher zurück und fragte mich nach all meinen Symptomen. Was genau man sehen könne, würden dann aber die Stationsärzte mit mir besprechen.

Ich saß dann erst einmal eine Stunde lang völlig verängstigt im Krankenzimmer, bis man mir mitteilte, man brauche weitere, bessere Aufnahmen – sofort! Also ging ich mit einem kardiologischen Interventions-Team zum MRT. Das habe ich gut überstanden und auf diesen Bildern konnte man schließlich das ganze Ausmaß der MS bis dato sehen: Neue und große Läsionen sowie schon ältere. Aber auch sogenannte „Black Holes“ oder „Schwarze Löcher“, also irreparabel abgestorbenes Nervengewebe. Nun hatte ich also Gewissheit. Daraufhin bin ich in eine Schockstarre verfallen. Nun endlich die Bestätigung zu haben, dass ich richtig damit lag, was ich schon lange gespürt hatte, hat mir den Boden unter den Füßen weggerissen. Im weiteren Verlauf haben mir die Ärzte mitgeteilt, dass es ein Wunder sei, dass ich noch reden und sitzen könne. Dann kam die Wut so richtig heraus: Man hatte mir jahrelang erzählt, es sei nur meine Psyche. Dass ich mir das alles nur einbilde. Dabei hätte man schon früher mit der MS-Therapie anfangen können. Dann habe ich mir gesagt: Es hilft ja nichts, ich mache weiter. Ab jetzt für mich! Doch seitdem habe ich mich nicht mehr wirklich erholt.

MS ist die Erkrankung der 1.000 Gesichter. Welche weiteren Symptome zeigen sich bei Dir?

Seit der Diagnose ist es zwar nicht viel schlechter geworden, aber es kamen andere Dinge hinzu, die mich sehr belasten. Da ist zum Beispiel die Erschöpfung, die ich vorher auch schon hatte, von der ich heute weiß, dass es Fatigue ist. Ich habe auch ganz oft Konzentrationsprobleme. Ich bin manchmal so durcheinander, dass ich falsche Wege laufe oder in der Situation vergesse, was ich eigentlich wollte. Ich will zum Beispiel zum Mülleimer, gehe aber stattdessen in Richtung Toilette. Manchmal lache ich darüber, aber es belastet mich. Sehr unangenehm sind Blasenfunktionsstörungen. Außerdem habe ich oft heftige Schmerzen und Kribbeln in den Beinen. Es ist sehr anstrengend, aber ich kann meine Beine noch steuern. Auch heute noch rede ich mir manchmal ein, dass die Schmerzen auf Verspannungen zurückgehen. Aber ich muss einfach akzeptieren, dass es MS-Symptome sind.

Wie hat die Diagnose MS Deinen Alltag verändert?

Ich bin achtsamer geworden, auch aufgrund der Depression. Ich lebe allein und muss mich dadurch gut strukturieren und auf mich Acht geben. Mir ist Struktur sehr wichtig. Dazu gehört auch, zu geregelten Zeiten ins Bett zu gehen und mindestens sieben Stunden zu schlafen. Generell brauche ich Schlaf und Ruhe, aber auch ein gesundes Maß an Action. Die Kunst ist, vorher wahrzunehmen, wann ich eine Pause brauche, damit ich nicht in die Fatigue falle. Mein Sozialleben hat sich verändert. Viele alte Kontakte sind nicht mehr da. Das liegt auch daran, dass ich mich mit gesunden Menschen nicht mehr so verbunden fühlen kann, auch aufgrund von unterschiedlichen Reaktionen auf mich und die MS. Viele sind verunsichert und reagieren deshalb unbeholfen. Ich kann das nachvollziehen. Das wäre ich sicher auch, wenn ich gesund wäre. Aber es ist nicht mein Problem, wenn Menschen sich von meiner MS überfordert fühlen. Und es ist auch nicht meine Aufgabe, dann dafür zu sorgen, dass es ihnen besser geht. Das führt zu weit von mir weg, und dann bleibe ich auf der Strecke.

Welche Strategien hast Du für Dich gefunden, Dir den Alltag mit MS zu erleichtern?

Ich habe meine Perspektive verändert – auch mit Hilfe der Therapie. Heute ist Selbstfürsorge wie ein Anker für mich. Das und Achtsamkeit für mich und meine Bedürfnisse. Das mag für einige vielleicht egoistisch klingen, vor allem für meine alten sozialen Kontakte. Aber heute äußere ich klar, wenn ich etwas nicht möchte oder nicht mehr kann. Mir wurde immer gesagt, ich sei doch so stark und eine Kämpferin. Das stimmt auch, aber ich muss nicht immer stark sein. Ich kann auch mal traurig sein, weinen, wütend sein. Das darf ich, und das kann ich jetzt.

Ich würde mich als sehr empathisch bezeichnen. Das ist gleichzeitig Fluch und Segen. Es ist eine gute Eigenschaft, auf die ich stolz bin, aber sie kostet auch viel Kraft. Ich habe gelernt, diese Empathie eher nach innen zu richten. Ich frage mich jetzt häufiger, was ich brauche und sorge für mich.

Durch diese Achtsamkeit hast Du auch neue Kontakte knüpfen können?

Ja, in meiner Facebook-Gruppe. Wir sind nur ca. 55 Mitglieder, aber alle haben das Herz am rechten Fleck. Der Name bedeutet mir sehr viel, denn nachdem ich die Diagnose erhalten hatte, kam ein passender Film dazu heraus. Als die Hauptfigur im Film von ihrer MS-Diagnose erfährt, hat mich das tief berührt, denn ich habe mich ähnlich gefühlt. Ich habe dann auf Facebook eine Gruppe gesucht und erstmal 20.000 Namen angezeigt bekommen. Da habe ich beschlossen, einfach eine eigene Gruppe zu gründen. Ich würde sie nicht Selbsthilfegruppe nennen, denn so sind wir nicht. Wir sind eine achtsame Gruppe von Menschen, die auf unterschiedliche Weise mit der MS zutun haben, sich austauschen über den Alltag, Blumen, Hobbys – das normale Leben eben. Wir haben das Motto „Nur wenn Du Dich zeigst, kann man Dich fühlen.“ Es kann dabei auch mal um die MS gehen, wenn es jemandem aus der Gruppe zum Beispiel gerade nicht gut geht. Aber hauptsächlich sind wir einfach füreinander da.

Gibt es weitere Kraftquellen für Dich?

Ich achte darauf, dass ich am Tag mindestens eine halbe Stunde meditiere. Kraftquelle ist für mich außerdem die Natur. Da bekomme ich die Kraft, die ich brauche, und die ich bei Menschen nicht bekomme. Denn Menschen reden zu viel, wollen immer eine Erklärung für alles. Das habe ich in der Natur nicht, sie ist einfach da. Sie ist ruhig, aber redet auf ihre Art. Ich habe einen riesigen Wald hinter dem Haus und einen See vor der Tür. Dann laufe ich mal einige Kilometer, das ist dann aber auch Höchstleistung. Mir reicht es schon, wenn ich im Auto fahre und mich an den Strand setze.

Außerdem ist da noch mein Kater Mr. Marley, ein wahrer Schatz. Er begleitet mich nun schon neun Jahre auf meinem Weg der Achtsamkeit und Ruhe.

Gab es ein Ereignis oder einen Menschen, das oder der Dich besonders inspiriert oder motiviert hat?

Es klingt komisch, aber es war der Arzt, der mir die Diagnose mitteilte, beziehungsweise die Art, wie er es getan hat. Er hat mir unheimlich viel Angst genommen und meinen Weg geebnet. Ich habe durch meine Erfahrungen ein Ärztetrauma. Ich habe mich so lange und so oft nicht ernst genommen gefühlt. Das war hier anders. Er gab mir Zuspruch, hat mir meine Therapieoptionen erklärt. Ich habe mich zum ersten Mal gut aufgehoben und behütet gefühlt. Er war einfach menschlich.

Welche persönliche Empfehlung möchtest Du anderen Betroffenen für den Umgang mit MS geben?

Geht achtsam und geduldig mit euch um. Niemand hat Schuld, dass ihr MS habt. Am wenigsten ihr selbst. Achtet euch mehr denn je und versucht im Moment zu bleiben. Keiner weiß, was morgen ist. Sorgt gut für euch. Selbstfürsorge sollte das Allerwichtigste sein. Und wenn euch die Gefühle überkommen, schaut sie euch genau an. Ich weiß selbst, wie sehr man unter Gefühlen leiden kann, aber beachtet trotzdem, dass es nur Gefühle sind.

Seid ihr wütend? Auf andere oder euch selbst, weil ihr nicht mehr funktioniert? Das bringt nichts. Trotzdem: Unterdrückt die Wut nicht, die darf und muss gefühlt werden. Aber Gefühle gehen vorbei und lassen sich umwandeln. Am besten in etwas Positives. Was das dann ist, muss allerdings jeder selbst sehen.

Vielen Dank für das Gespräch!

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DE-NONNI-00378, (01/2023)