Wann wurde bei Dir die Diagnose Multiple Sklerose gestellt, und aufgrund welcher Beschwerden wurdest Du untersucht?

Ich bekam 2011 die Diagnose. Vielleicht war die MS schon vorher da, aber das lässt sich rückblickend schwer sagen. Ich habe immer sehr viel Sport gemacht – Marathon und Triathlon. Ich hatte Taubheitsgefühle in den Fingern und Schmerzen, die auch Sportverletzungen gewesen sein könnten. Von den ersten Beschwerden bis zur Diagnosestellung hat es insgesamt ungefähr 5 Jahre gedauert.

Bei mir fiel es schließlich auf, weil ich beim Laufen Probleme im linken Bein hatte, so eine Art Fußhebeschwäche. Ich konnte den Fuß gar nicht richtig heben. Beim Joggen habe ich irgendwann festgestellt, dass ich mit dem Fuß immer hängen geblieben und öfter gestürzt bin.

Ich bin dann zum Orthopäden, da wurde die Lendenwirbelsäule getapt*. Dann war ich beim MRT und beim Neurologen. Es war aber medizinisch immer alles in Ordnung. Ich sollte langsamer machen und mich nach dem Sport mehr schonen. Meine Wegstrecken wurden aber immer kürzer und die Beschwerden in meinem linken Bein immer schlimmer.

*Anmerkung der Redaktion: Die Tape Therapie ist ein Verfahren, das zum Beispiel bei Sportverletzungen zusätzlich zur Physiotherapie zum Einsatz kommen kann. Dabei werden spezielle, elastische Klebebänder („Tapes“), auf die Haut geklebt, um durch sanften Druck auf das darunterliegende Gewebe zu wirken. Tapes können bei Verletzungen von Muskeln und Bändern, oder bei Überbelastung der Gelenke, die Heilung beschleunigen.

Wie kam man schlieĂźlich auf Multiple Sklerose?

Das kam eher zufällig, weil ich zu dieser Zeit im OP bei einem Neurochirurgen im Krankenhaus gearbeitet habe. Ich hatte mitbekommen, dass er Bandscheibenoperation gemacht hat, und mich mit ihm darüber unterhalten – auch über meine Schmerzen und meine bisherigen Untersuchungen. Dann hat er die richtigen Fragen gestellt: An welchen Körperstellen mein MRT gemacht wurde, zum Beispiel. Dadurch ist mir bewusst geworden, dass die bisherigen Untersuchungen nur den Lendenbereich umfasst haben.

Im Anschluss habe ich also ein MRT von der Hals- und Brustwirbelsäule machen lassen. Danach sagte mir der Radiologe sofort, dass ich Multiple Sklerose habe. Nach weiteren Untersuchungen war dann alles klar. Es war für mich sehr schwer, das zu akzeptieren. Ich hatte immer gedacht, meine Beschwerden haben damit zu tun, dass ich sehr viel Sport gemacht habe. Ich habe mir immer anhören müssen, dass die Lösung darin liegt, mich mehr zu schonen oder sogar mit dem Sport aufzuhören.

Heute bin ich froh, dass ich darauf nicht gehört habe. Denn nach der Diagnose wurden bei mir sichtbare Läsionen gefunden. Auf einmal sagten die Ärzte, dass es doch gut war, dass ich so viel Sport gemacht habe, sonst würde es viel schlechter aussehen.

MS ist die Erkrankung der 1.000 Gesichter. Welche weiteren Symptome zeigen sich bei Dir?

Ich bemerke die Erkrankung jeden Tag. Zu dem was ich bereits beschrieben habe, ist eine Blasenschwäche hinzugekommen. Als ich bemerkt habe, dass ich Urin und Stuhl manchmal nicht halten kann, hat es mich so umgehauen. In der Situation bekommt man auch Angst, weil man dann schnell nach Hause muss. Ich hatte das Gefühl, ich werde verrückt. Das Thema ist sehr schambesetzt, gehört aber bei manchen MS-Patienten auch dazu. Ich finde es wichtig, dass öfter darüber gesprochen wird.

Als ich zum ersten Mal von Fatigue gehört habe, habe ich mich natürlich gefragt, ob ich davon betroffen bin. Ich würde sagen, die Müdigkeit war bei mit nicht so extrem, aber ich merke schon, dass ich häufiger Pausen brauche.

Wie hat die Diagnose MS Deinen Alltag verändert?

Ich glaube, ich persönlich habe mich ein Stück verändert. Die Krankheit gehört jetzt zu mir, am Anfang habe ich das anders gesehen. Ich habe sie verdrängt, als sei sie nicht da. Ich habe in dem Tempo weitergemacht wie bisher. Das klappt aber nicht, denn man spürt sie jeden Tag. Es gab immer Warnsignale, die mir gezeigt haben, dass es so nicht mehr geht. Ich war mir dadurch selbst total fremd. Ich hatte das Gefühl ich bin nicht mehr die Person, die ich vorher war.

Dann bin ich depressiv geworden. Ich habe viel geweint, war tieftraurig darüber, dass ich krank bin. Mein Freundeskreis hat sich verändert. Ich kannte viele vom Sport und da ich hier nicht mehr so mithalten konnte, habe ich gemerkt, dass die gemeinsame Basis fehlt. Die Menschen um mich herum sind weniger geworden. Aber das war auch eine positive Veränderung, denn die, die bei mir geblieben sind, sind mir jetzt besonders nah. Mit ihnen ist es noch intensiver und schöner geworden.

Hilfe bei Depressionen

Wenn Du den Verdacht hast von Depressionen oder anderen psychischen Beschwerden betroffen zu sein, informiere Dich am besten bei Deinem Arzt oder einem Psychotherapeuten über professionelle Behandlungsmöglichkeiten. In Notfällen gibt es Krisendienste, die Du zur akuten Hilfe in Anspruch nehmen kannst:


  • Der Sozialpsychiatrischen Dienst bietet in vielen Städten Hilfe fĂĽr Menschen mit psychischen Erkrankungen und deren Angehören an. Die Kontaktdaten zu Deinem nächstgelegenen Sozialpsychiatrischen Dienst erhältst Du vom Gesundheitsamt oder ĂĽber eine Internetsuche „Sozialpsychiatrischen Dienst + Dein Wohnort“.
  • Das Info-Telefon Depression 0800 – 33 44 533 (Mo, Di, Do 13 – 17 Uhr; Mi, Fr 08:30 – 12:30 Uhr) ist ein Angebot der Deutschen Depressionshilfe und bietet Krankheitsbezogene Informationen, sowie Hinweise zu Anlaufstellen.

Welche persönlichen Veränderungen bemerkst Du an Dir?

Ich bin geduldiger und dankbarer geworden. Die Wertschätzung ist anders. Mittlerweile ist es so, dass ich die kleinen Dinge im Leben schätze und genießen kann. Ich war vorher immer sehr schnell unterwegs, hatte immer 1.000 Termine und alles musste immer sofort gehen. Und jetzt bin ich viel gelassener, kann auch mal abwarten und die Dinge einfach passieren lassen. Es kommt schon, was kommen muss, und es muss nicht immer alles sofort sein. Alles wird sich schon irgendwie fügen.

Mein Leben verändert sich immer weiter, auch abseits der MS. Ich kann sie aber heute besser akzeptieren und in mein Leben einbauen. Die MS hat viel in mir bewegt, ich bewege mich mit ihr. Auch wenn die Bewegungen langsamer geworden sind – im Außen und im Inneren. Es ist egal, ob ich renne, spazieren gehe oder krieche wie eine Schnecke. Es gibt Menschen, die begleiten mich dabei und nehmen mich wie ich bin. Das fühlt sich friedvoll an im Moment.

Welche Strategien hast Du fĂĽr Dich gefunden, den Alltag mit MS zu erleichtern?

So wie vor der Diagnose ist das Sport – natürlich heute eingeschränkter, aber eben soweit ich kann. Ich gehe dann nach draußen in die Natur. Meine Strategie ist es, in dem Tempo, das gerade möglich ist, durch den Wald zu gehen. Joggen kann ich nicht mehr, ich walke meistens. Es gibt aber auch Tage, da kann ich nur Spazierengehen. Das ist aber okay, dann geht es eben langsamer. Früher war ich so ein Wirbelwind, der immer hektisch joggend unterwegs war. Ich konnte das lange nicht akzeptieren, aber heute mache ich meine Pausen, genieße die Natur um mich herum. Mein Hund ist auch oft mit dabei. Das ist für mich ein totales Glücksgefühl. Es kann auch einfach schön sein, auf einer Bank zu sitzen und zu genießen.

Ich fahre gern Fahrrad und versuche so häufig wie möglich, das Auto stehen zu lassen. Zurzeit ist es aber schwer, weil ich mein Bein manchmal nicht über die Fahrradstange heben kann. Das muss ich noch anpassen, eventuell durch ein anderes Modell. Außerdem lese ich sehr gern.

Gab es ein Ereignis oder einen Menschen, das oder der Dich besonders inspiriert oder motiviert hat?

Das sind meine beiden Kinder. Meine Tochter ist 28 und mein Pflegesohn 18 Jahre alt. Die beiden sind aktuell meine größten Kraftquellen. Ich bin letztes Jahr Oma geworden und meine Tochter und mein Enkel wohnen direkt neben meinem Sohn und mir. Ich habe im letzten Jahr eine Trennung durchlebt, einige tragende Säulen sind für mich weggebrochen.

Da waren meine Kinder eine große Unterstützung. Wären die beiden nicht da gewesen wären, weiß ich nicht, ob ich das alles geschafft hätte. Die beiden motivieren mich, jeder auf seine Weise. Mein Sohn geht so liebevoll und rücksichtsvoll mit mir um. Meine Tochter ist alleinerziehend und wie sie das alles so meistert, beeindruckt mich immer wieder. Und daneben baut sie mich auch noch auf, wenn es mir mal nicht so gut geht. Es ist schön, die drei in meiner Nähe zu haben.

Außerdem inspirieren mich Menschen, die sich trotz MS behaupten im Leben. Ich lese gern von Menschen, die auch mit der Erkrankung tolle Dinge leisten, sich eine Weltreise trauen oder ähnliches. Das motiviert mich dann immer, auch meine kleinen Schritte weiterzugehen. Es muss kein Marathon sein. Aber eben meine Art von Bewegung. Die behalte ich bei.

Welche persönliche Empfehlung möchtest Du anderen Betroffenen für den Umgang mit MS geben?

MS bringt Dich immer wieder in die Situation, vieles neu erklären zu müssen. Es ist nicht so, dass man die Diagnose bekommt, man erzählt davon, und dann ist gut. Ich lebe jetzt neun Jahre damit und muss immer wieder erklären, was mit mir los ist, was ich nicht kann, was ich sehr wohl noch kann, warum ausgerechnet heute nicht und morgen vielleicht doch wieder. Dadurch fühle ich mich manchmal ausgeschlossen oder bin enttäuscht, wenn jemand das nicht sofort versteht. Aber das kann ich auch nicht erwarten. Man sieht es mir ja nicht unbedingt an und viele wissen eben nicht, wie es sich anfühlt, mit MS zu leben. Wie sollen sie auch, wenn wir es nicht beschreiben?

Deshalb finde ich es so wichtig, offener mit der Erkrankung umzugehen. Je mehr dann wissen, was es heißt, damit zu leben, desto mehr Verständnis werden wir erfahren. Man darf auf lange Sicht nicht den Mut verlieren. Es gibt so viele schöne Kleinigkeiten, die man einfach mal wieder wahrnehmen muss. Ja, man muss einige Dinge aufgeben, die man vor der MS wie selbstverständlich einfach gemacht hat. Aber es gibt immer wieder was Neues im Leben. Wenn man das Leben als ständigen Wandel sieht, kommt man auch darauf, dass man sich von den Menschen ohne MS gar nicht so unterscheidet: Die haben auch Dinge, die nicht gut laufen, die sie zurücklassen müssen, und sie müssen sich auf Neues einlassen. Wir sollten gemeinsam nach vorne schauen.

Vielen Dank für das Gespräch!

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DE-NONNI-00379, (01/2023)