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Wann wurde bei Dir die Diagnose Multiple Sklerose gestellt, und aufgrund welcher Beschwerden wurdest Du untersucht?
Erste Symptome zeigten sich nach der Geburt meiner Tochter 1995. Die Diagnose bekam ich aber erst im Jahr 2004. Dass dazwischen so viel Zeit vergangen ist, liegt daran, dass ich damals absolut keine Zeit finden konnte, zum Arzt zu gehen. Die Details würden hier den Rahmen sprengen, aber es begann damit, dass meine Tochter schwerkrank auf die Welt kam und mehrmals operiert werden musste. Einige Wochen später habe ich bei mir die ersten Symptome bemerkt: Taubheitsgefühle und Sensibilitätsstörungen in Armen und Beinen. Es kam immer wieder diese unglaubliche Erschöpfung hinzu. Heute kann ich diese als Fatigue einordnen. Aber damals ist man davon ausgegangen, dass es an der Tag-und-Nacht-Pflege meiner Tochter liegt.
Kurze Zeit später erlitt ich eine Fehlgeburt. Dadurch kam eine leichte Depression hinzu, die mich heute noch begleitet. 1999 kam mein Sohn zur Welt, ebenfalls schwerkrank. 2001 erkrankte mein Mann an einem unheilbaren Gehirntumor. Ab dann war ich rund um die Uhr mit der Pflege von drei Menschen beschäftigt. Nicht lange nach seiner Diagnose hat mein Mann uns verlassen. Ohne Vorankündigung ist er zu seinen Eltern zurückgezogen und hat den Kontakt zu uns beendet. Die darauffolgende Scheidung war ein einziger Kampf. Plötzlich stand ich als alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern da. Bei so viel Verantwortung blieb einfach keine Zeit für mich. Die Symptome wurden dann immer schlimmer. 2004 stand die Diagnose Multiple Sklerose dann fest.
MS ist die Erkrankung der 1.000 Gesichter. Welche weiteren Symptome zeigen sich bei Dir?
Die Depression kam so richtig zum Vorschein. Heute weiß ich, dass das durch ein Medikament ausgelöst wurde, das ich kurz nach der MS-Diagnose bekommen habe. Die Gehstrecke, die ich zurücklegen konnte, wurde immer weiter eingeschränkt. Ich hatte das Gefühl, dass ich zusammenbreche, weil meine Beine mich nicht mehr tragen können. Durch den chronisch fortschreitenden Verlauf der MS habe ich heute mit Gehstörungen und Spastiken zu kämpfen. Dazu kamen kognitive Störungen, die sich mal stärker, mal schwächer zeigen. Ich kann mich schlechter konzentrieren, mir Dinge schlechter merken und schweife beim Erzählen auch häufig mal ab. Es kann sein, dass ich einen Satz anfange und mittendrin vergesse, was ich eigentlich sagen wollte.
Ich habe eine überaktive Blase, leide gelegentlich an Inkontinenz. Das gehört zu den Dingen, über die viele nicht sprechen wollen. Ich verstehe das, es ist ja auch unangenehm. Aber ich habe das Bedürfnis, so offen darüber zu reden, eben weil es viele nicht tun. Deshalb behandele ich solche Themen auch sehr ausführlich auf meinem Blog und in meinen Büchern.
Wie hat die Diagnose MS Deinen Alltag verändert?
Bei mir hat sich alles um 180 Grad gedreht und einfach alles verändert. Neben der MS-Erkrankung den Kampf als alleinerziehende Mutter und die Pflege meiner Kinder zu bewältigen – das hat mich viel Kraft gekostet. Durch die Scheidung wurde es finanziell sehr eng. Ich hatte das Gefühl, mit dem Rücken zur Wand zu stehen. Ich habe mir dann eine Stelle als Medizinisch-technische Assistentin im Schichtdienst einer Klinik gesucht. Aber schon innerhalb der ersten fünf Monate hatte ich zwei Schübe. Der zweite war so heftig, dass ich in eine Reha musste. Das hat mich nicht nur meinen Job gekostet – denn ich wurde in der Probezeit gekündigt – ich musste in der Reha auch wieder laufen lernen und zurück ins Leben finden. Ich liebe meinen Beruf als MTA, konnte in dem Bereich aber nicht mehr arbeiten. Seit 2005 bin ich in Rente. Trotzdem hatte ich zwei Kinder zu versorgen. Ich habe zusätzlich diverse Minijobs angenommen, um uns über Wasser zu halten. 2017 hatte ich dann aber einen Schub, der so schlimm war, dass ich ein paar Wochen lang nicht sprechen konnte. Man hat mich überhaupt nicht verstanden, da sich alles nur noch „verwaschen“ angehört hat. Seitdem kann ich auch keine Minijobs mehr machen. Ich habe damals wirklich alles verloren. Ich kann mich an kaum etwas anderes erinnern, als an das Gefühl, erschöpft zu sein. Aber ich hatte meine Kinder, und das ist das allerwichtigste für mich! Heute kann ich besser auf mich achten, und inzwischen geht es mir meistens gut – so gut es eben geht, wenn man eine chronische Erkrankung hat.
Welche Strategien hast Du fĂĽr Dich gefunden, den Alltag mit MS zu erleichtern?
Es ist ein Gesamtpaket
aus Strategien. Das wichtigste Schlagwort ist Zeitmanagement. Ich teile mir den
Tag so ein, dass ich ihn gut bewältigen kann. Mit maximal einem Termin und
ausreichend Ruhepausen. Ich nutze Hilfsmittel, die mir den Alltag erleichtern. Je
nachdem, wie meine MS sich gerade bemerkbar macht, nutze ich Stock, Rollator
oder Rollstuhl.
Ein ganz wichtiger Punkt und ein weiteres Schlüsselwort ist für mich Akzeptanz. Ich akzeptiere meine Grenzen und dass manches nicht mehr geht oder eben anders läuft. Ich weiß, dass viele damit hadern, auch ich musste das erst lernen. Die Bedeutung des Rollators zum Beispiel: Ihn zu nutzen hat nichts mit Schwäche zu tun. Der Rollator bedeutet für mich Erleichterung. Ich kann damit besser laufen, etwas daraufstellen und auch besser mithalten, wenn ich mit jemandem spazieren gehe – das ist so ein Beispiel, wie man es auch sehen kann. Außerdem brauche ich ihn ja nicht jeden Tag. Ja, wenn es ganz schlimm ist, brauche ich sogar einen Rollstuhl. Aber manchmal reicht eben auch der Stock aus. Das ist doch toll! Anstatt immer zu schauen, was nicht mehr geht, gibt es mir Kraft, mich darauf zu konzentrieren, dass es auch bessere Tage gibt.
Gibt es weitere Kraftquellen fĂĽr Dich?
Ich bin eine Leseratte und schreibe leidenschaftlich gern. 2009 habe ich angefangen, mir alles von der Seele zu schreiben. Ich habe Sachbücher geschrieben, dazu Liebesromane unter meinem Pseudonym. Gebloggt habe ich auch schon sehr früh, zuerst mehr im Tagebuchstil. 2018 habe ich das dann professioneller aufgezogen und meinen Blog ins Leben gerufen. Diese Form der Schreibtherapie – ich würde es wirklich als solche beschreiben – hat mir sehr bei der Bewältigung geholfen.
Ich achte heute mehr auf mich, sage auch mal etwas ab, wenn ich weiĂź, es ist besser fĂĽr mich. Dinge und Menschen, die mir nicht guttun, weil sie zu viel Energie von mir absorbieren, sortiere ich aus. Das klingt hart, aber ich muss auf mich aufpassen. Ich bin natĂĽrlich da, wenn man mich braucht, zum Beispiel fĂĽr meine Kinder oder im Austausch mit meinen Lesern. Aber ich habe keine Zeit mehr, aus falscher RĂĽcksicht zu ignorieren, wenn mir etwas nicht guttut. Ich habe in der Vergangenheit schon zu wenig an mich gedacht und konzentriere mich heute auf das, was mir Freude bereitet.
Ich leite eine Selbsthilfegruppe in Landau und habe auĂźerdem eine Klettergruppe fĂĽr Menschen mit Handicap gegrĂĽndet. FĂĽr mich ist wichtig, aktiv und in Kontakt mit anderen zu bleiben. Damit das Leben nicht stillsteht.
Der Einsatz fĂĽr meine Familie hat nicht nur Kraft gekostet, sondern er gibt mir auch viel. Meine Kinder sind inzwischen erwachsen, und wir sind ein tolles Team. Manchmal stehe ich vor dem Spiegel und denke: Alles richtig gemacht!
Gab es ein Ereignis oder einen Menschen, das oder der Dich besonders inspiriert oder motiviert hat?
2008 habe ich Pater Anselm Grün als Inspirationsquelle für mich entdeckt. Ich bin zwar keine Kirchgängerin, aber durchaus religiös. Ich glaube an etwas – egal, wie man es benennt. Eine gute Bekannte hatte mir ein Buch von ihm empfohlen, das ich verschlungen habe. Es folgten weitere, und ich habe mich weiter mit dem Thema Seelenarbeit beschäftigt. Ich war auf der Suche nach einem Sinn, nach etwas, das mich stützt und mir Kraft gibt. Auf dem Weg zur Selbstfindung habe ich dann auch zwei Klosterbesuche mit Kursen absolviert und dort auch ein persönliches Gespräch mit Pater Anselm Grün geführt. Das hat mich sehr viel weiter gebracht im Prozess der Sinnsuche und Selbstliebe.
Die Spiritualität hat mich noch deutlicher erkennen lassen, dass der Mensch im Vordergrund steht, nicht die Krankheit oder warum man sie bekommt. Mit solchen Fragen sollte man sich nicht quälen.
Welche persönliche Empfehlung möchtest Du anderen Betroffenen für den Umgang mit MS geben?
Die MS ist nicht das Ende. Man fängt auch irgendwie neu an. Man muss sich umorganisieren, entdeckt dadurch neue Hobbys. Vielleicht gibt es eine berufliche Neuorientierung. Die Rollenverteilung in der Familie kann sich verändern. Daran kann vieles auch positiv sein, aber es braucht Zeit!