Welche Arten von Angst gibt es?

Wie lange dauert es bis zum nächsten Schub? Was passiert, wenn sich meine Einschränkungen nicht zurückbilden, ich vielleicht sogar im Rollstuhl lande – und meine Selbstständigkeit verliere? Fragen wie diese beschäftigen viele MS-Patienten. Sie können ihre Lebensqualität stark einschränken, im Extremfall Depressionen, Panikattacken und Angststörungen auslösen

Um der Angst gezielt begegnen zu können, ist es zunächst wichtig, ihre verschiedenen Formen näher zu betrachten. Denn zum einen kann Angst ein überdauerndes Merkmal der Persönlichkeit sein, eine sogenannte Disposition. Menschen, die zu diesem Typ gehören, sind grundsätzlich ängstlich – unabhängig von konkreten Gegebenheiten. Geraten sie in eine für sie bedrohliche Situation, reagieren sie auf diesen Reiz besonders stark.

Die Corona-Pandemie als konkreter Reiz

Dem gegenüber gibt es die momentane Angstreaktion als vorübergehenden Zustand. Sie wird ausgelöst durch einen konkreten, zeitlich begrenzten Reiz. Ein Beispiel dafür ist die Corona-Pandemie. Beim Umgang mit dieser Situation spielen verschiedene Faktoren eine Rolle. „Unter anderem hängt das davon ab, wie groß ich die Bedrohung für mich und mein Leben empfinde“, erklärt Prof. Dr. phil. Dipl.-Psych. Iris-Katharina Penner. Sie lehrt an der Neurologischen Klinik der Heinrich Heine Universität Düsseldorf und leitet das COGITO Zentrum für angewandte Neurokognition und neuropsychologische Forschung. Zum anderen kommen die eigenen Erfahrungen ins Spiel. „Wenn ich weiß, dass ich andere schwierige Lebenssituationen bereits bewältigt habe, fällt es mir leichter, das erneut zu tun.“

Ein Beispiel: Als MS-Betroffener bist Du zu einem bestimmten Maß daran gewohnt, mit der Ungewissheit zu leben und mit Ängsten umzugehen. Das kann Dir dabei helfen, auch mit Krisen wie der Corona-Pandemie besser klar zu kommen. Eine weitere wichtige Rolle spielen sogenannte Coping-Mechanismen, also Methoden zur Bewältigung von Sorgen oder Problemen. Beispiele für Coping-Tipps findest du weiter unten im Text.

Was bewirkt Angst in unserem Körper?

Verspüren wir Angst, versetzt dies unseren Körper in Stress. Es kommt unter anderem zu einer Ausschüttung von Stresshormonen wie Glucokortikoide und Noradrenalin. Evolutionär gesehen macht das auch Sinn: Die Hormone sorgten bereits in früheren Jahren dafür, dass unser Organismus in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt wird. Der Herzschlag wird beschleunigt, die Muskeln und das Gehirn besser durchblutet. Unser Körper ist so besser imstande, vor einer Bedrohung zu fliehen oder um sein Überleben zu kämpfen – beispielsweise bei einem Angriff durch ein wildes Tier.

Stress schwächt das Immunsystem

Derartigen Bedrohungen für Leib und Leben sind wir heutzutage zum Glück nur noch sehr selten ausgesetzt. Die Reaktion des Körpers auf Stress hingegen ist noch immer die gleiche. Und dies kann unter anderem unserem Immunsystem zusetzen. Denn die ausgeschütteten Hormone besetzen die T- und B-Zell-Rezeptoren – das sind Andockstellen für bestimmte Zellen unseres Immunsystems. Die Zellen können dadurch ihre Arbeit nicht mehr voll erfüllen, wodurch unsere Abwehrkräfte geschwächt werden. „Bei MS-Patienten kann auf diese Weise das Risiko für einen Schub steigen“, sagt Prof. Penner. Darüber hinaus führt Stress dazu, dass der Spiegel an sogenannten proinflammatorischen Zytokinen im Körper steigt. „Dabei handelt es sich um Entzündungsmarker, die bei MS z. B. das Symptom Fatigue verstärken können.“

Wie kannst Du mit der Angst umgehen?

Das Leben ist voller Herausforderungen, und nicht jede Bedrohung lässt sich vermeiden. Das wissen die meisten MS-Patienten nur zu gut, denn häufig nehmen sie die Erkrankung und deren ungewissen Verlauf als beängstigend wahr. Allerdings: „Wenn ich bei einer Bedrohung selbst den Eindruck habe, dass ich genug Ressourcen habe, um sie zu bewältigen, dann entsteht positiver Stress, und kein negativer“, erklärt Frau Prof. Penner. Und genau hier liegt der Unterschied: Während negativer Stress einen schlechten Einfluss auf unsere körperliche und psychische Gesundheit haben kann, beeinträchtigt der positive Stress unser Immunsystem nicht. „Nur wenn ich denke, dass ich mit einer Bedrohung nicht umgehen kann und ich ihr hilflos ausgesetzt bin, erwächst daraus negativer Stress, der die MS verschlimmern kann.“

Entspannung, Austausch und eine positive Einstellung

Eine weitere gute Nachricht: Der Umgang mit Ängsten lässt sich trainieren. Dabei können Dir folgende Maßnahmen helfen:

  • Übe Dich in Entspannungsübungen, zum Beispiel Meditation oder Achtsamkeitstraining.
  • Tausche Dich regelmäßig mit Freunden, Bekannten und Verwandten aus. Vielen MS-Patienten hilft zudem der Kontakt zu anderen Betroffenen, da sie meist mit ähnlichen Ängsten zu kämpfen haben. Nicht nur in Zeiten von Corona ist dies auch unkompliziert über soziale Netze möglich.
  • Setze Dir realistische Ziele, die Dir positive Erlebnisse ermöglichen.
  • Lenke Deinen Blick immer wieder auch auf die positiven Dinge in Deinem Leben.

Methoden und Strategien wie diese können Dir helfen, Deine Resilienz zu stärken. Als solche bezeichnet man die persönliche Widerstandskraft gegenüber Bedrohungen. Denn trotz allem kann es passieren, dass hin und wieder Situationen auftauchen, die Du als bedrohlich empfindest. Allerdings bist Du ihnen nicht hilflos ausgeliefert. In solchen Fällen empfiehlt Frau Professor Penner folgende Strategien.

Mit der Angst umgehen: 3 Tipps von der Expertin

  • Schätze die Situation realistisch ein: Wovor genau hast Du Angst? Gab es eine solche Situation schon in Deiner Vergangenheit? Falls ja, welche Erfahrungen hast Du dabei gemacht, welche Strategien haben Dir geholfen, damit umzugehen? Je konkreter die Ängste, desto leichter ist es, Lösungen zu finden.
  • Wirken Probleme groß und überwältigend, weiß man häufig gar nicht, wo man ansetzen soll. Hier kann es helfen, die komplexe Aufgabe in viele kleine zu zerlegen – und diese nacheinander abzuarbeiten. Die kleinen Erfolge wirken dem anfänglichen Gefühl der Ohnmacht entgegen und stärken die Selbstwirksamkeit. Unter diesem Begriff versteht man die Überzeugung einer Person, auch in schwierigen Situationen selbstständig handeln zu können und Herausforderungen aus eigener Kraft erfolgreich bewältigen zu können.
  • Vertraue nicht jeder Information, die beispielsweise auf Social Media verbreitet wird. Suche Dir seriöse Informationsquellen, frag Experten, Freunde oder andere Betroffene um Rat.


DE-NONNI-00388, (01/2023)