Die Krankheit verläuft individuell

In Deutschland leben schätzungsweise bis zu 250.000 Menschen mit Multipler Sklerose. Die Symptome einer MS und ihre Auswirkungen entwickeln sich bei jedem Betroffenen anders.Daher ist es sehr schwer, den individuellen Verlauf vorherzusagen.

Die Beschwerden in Beinen und Rumpf können in einigen Fällen dazu führen, dass MS-Betroffene auf Gehstock, Rollator oder einen Rollstuhl angewiesen sind.

Das ist aber keineswegs der Normalfall.

Wie sind die Fakten?

Dazu gibt es auch Zahlen: Lediglich in fünf Prozent der Fälle führt die Erkrankung innerhalb weniger Jahre zu einer schweren Behinderung. Laut dem MS-Register des Bundesverbands brauchen 70 Prozent der MS-Betroffenen im Alter von 50 Jahren keine Gehhilfe für eine Strecke von 100 Metern. Eine US-Studie zum Langzeitverlauf der MS ergab, dass 17 Jahre nach der Diagnose 90 Prozent der Betroffenen noch gehfähig waren.

Ursache für Gehstörungen bei MS

Die Ursachen für Gehstörungen durch MS liegen in der Natur der Autoimmunkrankheit: Durch Entzündungen der Myelinschicht, die Nervenzellen in Hirn und Rückenmark ummantelt, werden Nervenfasern geschädigt, und Hirngewebe wird zerstört. Durch Entzündungen und den Verlust an Hirnmasse werden der Empfang, die Verarbeitung und die Weiterleitung verschiedener Reize zwischen Nervenfasern unterbrochen oder sogar dauerhaft gestört. Das können Signale sein, die der Informationsverarbeitung dienen, oder Reize wie Schmerz, Kälte und Wärme – oder Signale an die Muskeln des Bewegungsapparats.

Unsichere Bewegungen (Ataxie) sowie Zittern (Tremor) werden durch eine Beeinträchtigung der Nervenfasern in Teilen des Kleinhirns ausgelöst. Über das Kleinhirn laufen etwa 200 Millionen Nervenfasern, die für ganz unterschiedliche Funktionen des Körpers zuständig sind – unter anderem die Koordination von Bewegungsabläufen. Wenn diese Bereiche von MS betroffen sind, kann es zu Koordinationsproblemen oder einem unsicheren, schwankenden Gang (Gangataxie) kommen. Eine weitere – häufig bei MS vorkommende – Folge kann die Muskelschwäche in Armen und Beinen sein. Diese kann bis hin zu Lähmungserscheinungen führen.

Hektik, Überanstrengung oder Stress können bei Multipler Sklerose ebenfalls Bewegungsstörungen hervorrufen und damit Deinen Krankheits-Verlauf verschlimmern.

Der Rollstuhl als VerbĂĽndeter

Die richtige und frühzeitige Therapie sowie begleitende Maßnahmen (zum Beispiel Bewegung, Physiotherapie oder Yoga) können helfen, das Fortschreiten der MS-Erkrankung möglichst lange hinauszuzögern und Deine Mobilität zu erhalten.

Doch auch falls Du aufgrund der MS von starken körperlichen Einschränkungen betroffen bist, Du also eventuell bereits auf einen Rollstuhl angewiesen bist oder es in Zukunft sein könntest: Dies solltest du dir immer wieder in Erinnerung rufen:

  • Ja, ein Leben im Rollstuhl stellt Dich vor groĂźe Herausforderungen.
  • Sieh den Rollstuhl jedoch nicht als Gegner an, sondern vielmehr als Begleiter und VerbĂĽndeten: Er kann Dir Kraft sparen, Dir Mobilität und Lebensqualität zurĂĽckgeben und es Dir ermöglichen, aktiv am Alltag teilzuhaben.

Wie bekommt man einen Rollstuhl?

Wie wird eigentlich entschieden, ob ein MS-Patient einen Rollstuhl braucht? Die Entscheidung liegt letztlich bei Deinem Arzt. Er gruppiert Deine MS auf der sogenannten EDSS-Skala ein. EDSS steht für „Expanded Disability Status Scale“ („erweiterte Behinderungsstatus-Skala“). Diese reicht von 0 bis 10 und gibt den Grad der Behinderung bei Multiple Sklerose-Patienten an. EDSS-Grad 7 beschreibt etwa, dass jemand „unfähig ist, selbst mit Hilfe, mehr als eine Strecke von fünf Metern zu gehen“ – und somit weitgehend auf einen Rollstuhl angewiesen ist.

Um einen Rollstuhl verschrieben zu bekommen, ist eine ärztliche Verordnung notwendig. Dann solltest Du dich bei Deiner Krankenkasse nach dem weiteren Vorgehen erkundigen. In der Regel arbeiten die Kranken- beziehungsweise Pflegekassen mit bestimmten Sanitätshäusern beziehungsweise Fachhändlern zusammen. Deren Fachpersonal berät dich bei der Wahl des richtigen Modells, das alle medizinisch notwendigen Ausstattungsmerkmale enthält. Zudem bekommst Du einen Kostenvoranschlag zur Vorlage bei Deiner Kasse.

Wie sieht es mit der Zuzahlung aus?

Das Sanitätshaus ist verpflichtet, Dir bei Bedarf einen Rollstuhl anzubieten, der Dich nichts kostet. Dein Eigenanteil für diese Standardvariante, das „Kassenmodell“, liegt bei maximal zehn Euro. Wenn Du darüber hinaus jedoch noch „Extras“ möchtest, bezahlt die Kasse diese in der Regel nur, wenn sie laut Deines Arztes medizinisch notwendig sind.

Du hast übrigens keinen Anspruch auf einen nagelneuen, eigenen Rollstuhl: Es kann auch sein, dass Du leihweise ein Modell aus dem Bestand des Sanitätshauses bekommst. Dieses muss einwandfrei und generalüberholt sein.

Manuelles Modell oder E-Rollstuhl?

Wenn Du einen Rollstuhl brauchst, stellt sich auch die Frage, ob es ein per Hand oder ein elektrisch betriebenes Modell („E-Rollstuhl“) sein soll. Die Vielfalt an Modellen und Ausstattungsvarianten ist enorm.

Welche Variante für den Patienten am besten geeignet ist, kommt natürlich immer auf den Einzelfall an. Entscheidend ist unter anderem, ob Betroffene weiter ihre Hände und Arme so einsetzen können, dass sie einen manuellen Rollstuhl optimal bedienen können. Dieser Rollstuhl kann auch von einer Hilfsperson geschoben werden.

Sollte es aktuell oder in absehbarer Zeit nicht mehr möglich sein, einen Rollstuhl selbst zu bewegen, ist der E-Rollstuhl eine Option. Auch Deine Umwelt spielt eine Rolle – viele Steigungen im Alltag würden zum Beispiel eher für einen E-Rollstuhl sprechen.

Was ist Rollstuhltraining?

Wenn Du noch nie in einem "Rolli“ gesessen hast, wirst Du anfangs wahrscheinlich Schwierigkeiten beim alltäglichen Umgang mit dem Hilfsmittel haben: Wie kommst Du am besten über Bordsteinkanten, wie ist das mit Gefälle und Steigungen? Sanitätshäuser, Vereine und Stiftungen bieten daher häufig Rollstuhltrainings an, die von ausgebildeten Trainern geleitet werden. Ziele eines solchen Kurses sind unter anderem,

  • theoretische Grundlagen zum richtigen Umgang mit dem Rollstuhl zu erlernen
  • die richtige Fahrtechnik zu ĂĽben
  • Deine Geschicklichkeit zu steigern und HĂĽrden zu ĂĽberwinden sowie
  • Deine Ausdauer fĂĽr den täglichen Gebrauch zu verbessern

Mobilität und Freiheit zurückgewinnen

Zusammenfassend lässt sich also sagen: Die Angst, auf einen Rollstuhl angewiesen zu sein, ist unter MS-Betroffenen weit verbreitet – dies ist auch bei unserer Facebook-Umfrage deutlich geworden. Die Daten zeigen jedoch, dass diese Angst nicht zwangsläufig Realität werden muss.

Doch auch falls der Rollstuhl eines Tages nötig werden sollte: Das bedeutet nicht, dass Dein Leben dadurch weniger lebenswert ist. Auch für gelegentliche oder dauerhafte Rollstuhlfahrer ist es möglich, ihre Träume zu verwirklichen, im Beruf erfolgreich zu sein und eine glückliche Partnerschaft zu führen. Denk immer daran: Der Rollstuhl kann Dir ein gutes Stück Mobilität und damit Freiheit zurückgeben


DE-NONNI-00449, 02/2023