Bei Instagram und seinem Blog beschreibt er seinen Alltag mit MS. Er möchte anderen Betroffenen helfen, sich der MS zu stellen und viele (auch bürokratische) Hindernisse zu überwinden.

Wie verlief der Weg bis zur Diagnose Multiple Sklerose?

Es hat einige Jahre vorher mit zwei traumatischen Erfahrungen angefangen: Ich habe kurz hintereinander zwei Menschen verloren, die mir sehr nahestanden. Meine Schwiegermutter ist 2014 an den Folgen von Lungenkrebs verstorben und ein halbes Jahr später meine eigene Mutter völlig unerwartet aus bisher unbekannten Gründen. Ich habe infolgedessen eine sehr schwere depressive Phase durchgemacht. Es kam einfach zu viel zusammen, ich stand unter großem Druck und habe mich irgendwann einfach überrollt gefühlt. Kurz nachdem meine Mutter verstorben ist, habe ich einen neuen Job bei einer Bank angenommen. Den konnte ich aber aufgrund der traumatischen Erfahrung gar nicht vernünftig antreten, obwohl ich motiviert war. Leider ist das auch an meinem Arbeitsplatz aufgefallen. Zusätzlich zur Trauer musste ich mich mit Mobbing auseinandersetzen und damit fertig werden. Ich habe psychisch immer weiter abgebaut, musste meine Arbeitsstunden reduzieren und wurde letztlich krankgeschrieben. Mit mir war nichts mehr anzufangen. Ich hatte keinen Antrieb mehr, kaum noch Lebensenergie. Schließlich habe ich eine schwere Depression diagnostiziert bekommen und musste auch einige Wochen in einer psychiatrischen Tagesklinik verbringen. Aber es wurde langfristig nicht besser. Nach meiner Entlassung bin ich in ein noch tieferes Loch gefallen. Inzwischen kann ich darüber sprechen und möchte das auch, um anderen Betroffenen zu sagen, dass sie selbst nicht das Problem sind. Ich habe mich selbst so sehr verurteilt, mich als Versager gefühlt, konnte und wollte nicht mehr. Heute kann ich ganz klar sagen: Das bin ich nicht! Ich bin nur krank!

Hilfe bei Depressionen

Wenn Du den Verdacht hast von Depressionen oder anderen psychischen Beschwerden betroffen zu sein, informiere Dich am besten bei Deinem Arzt oder einem Psychotherapeuten über professionelle Behandlungsmöglichkeiten. In Notfällen gibt es Krisendienste, die Du zur akuten Hilfe in Anspruch nehmen kannst:


  • Der Sozialpsychiatrischen Dienst bietet in vielen Städten Hilfe fĂĽr Menschen mit psychischen Erkrankungen und deren Angehören an. Die Kontaktdaten zu Deinem nächstgelegenen Sozialpsychiatrischen Dienst erhältst Du vom Gesundheitsamt oder ĂĽber eine Internetsuche „Sozialpsychiatrischen Dienst + Dein Wohnort“.
  • Das Info-Telefon Depression 0800 – 33 44 533 (Mo, Di, Do 13 – 17 Uhr; Mi, Fr 08:30 – 12:30 Uhr) ist ein Angebot der Deutschen Depressionshilfe und bietet Krankheitsbezogene Informationen, sowie Hinweise zu Anlaufstellen.

Wie ist man dann schlieĂźlich darauf gekommen, dass Du an Multiple Sklerose erkrankt bist?

Meine Antriebslosigkeit wurde immer stärker und es kamen weitere Symptome wie Konzentrationsstörungen hinzu. Mein Psychiater hatte die Vermutung, dass das nicht mehr nur auf die Depression zurückzuführen sein könnte, und hat mir empfohlen, organische Schäden ausschließen zu lassen. Nach einem ersten MRT des Kopfes konnte noch keine eindeutige Diagnose gestellt werden. Die Ungewissheit hat mich fertig gemacht. Man macht sich ja verrückt, wenn man so etwas gesagt bekommt. Es hat dann noch eine ganze Weile und viele Untersuchungen gebraucht, bis die MS dann feststand. Die Untersuchungen selbst fand ich sehr unangenehm, und die Diagnose selbst hat mich getroffen wie ein Schlag ins Gesicht. Gerade noch dachte ich, es wird noch anstrengend genug, aus der Depression herauszukommen und dann kam dieser Schock dazu. Ich war einfach verzweifelt, überfordert und hab mich total hilflos gefühlt. Da war die Angst, im Rollstuhl zu landen. Aber gleichzeitig auch eine unglaubliche Wut. Was in mir vorging, kann ich kaum in Worte fassen. Allein der Versuch sprengt die Grenzen dessen, was ich emotional erfassen oder ausdrücken kann. Auch wenn die Menschen in meinem Umfeld, vor allem mein Mann, alles gegeben haben, um für mich da zu sein: Ein Auffangen war einfach nicht möglich. Ich denke, das kann man nur nachvollziehen, wenn man selbst betroffen ist.

MS ist die Erkrankung der 1000 Gesichter. Welche weiteren Symptome zeigten sich bei Dir?

Am meisten leide ich unter dem Fatigue-Syndrom. Das habe ich am Anfang gar nicht als MS-Symptom erkannt und immer auf die Depression geschoben. Rückblickend vermute ich, dass ich bereits 2012 meinen ersten Schub hatte. Ich hatte Taubheitsgefühle im Bein, Konzentrationsprobleme, eine kurze Aufmerksamkeitsspanne und war generell sehr schnell müde. Zu dem Zeitpunkt habe ich BWL studiert, um mich nach meiner Ausbildung als Kaufmann in der Telekommunikation beruflich weiterentwickeln zu können. Das Studium habe ich aber nicht abgeschlossen. Ich dachte, wenn ich das nicht schaffe, ist es eben nichts für mich. Im Nachhinein betrachtet könnten das schon die ersten Anzeichen für MS gewesen sein. Die Sensibilitätsstörungen sind seit 2017 deutlich schlimmer geworden. Ich habe paretische Hände, das heißt, ich kann zwischendurch nicht richtig greifen. Wenn ich zum Beispiel einen Schlüssel in der Hand halte, öffnen sich meine Hände als wollte ich ihn loslassen. Meine Muskelkraft ist auch deutlich zurückgegangen seit der Diagnose. Mein rechtes Bein fing an, komplett auszufallen. Ich habe einen Gehstock verschrieben bekommen, weil ich nicht in der Lage war, mehr als 20 Meter zu gehen. Es stand sogar zur Debatte, dass ich einen Rollator bekomme. Aber durch Physiotherapie und einen Medikamentenwechsel ist das inzwischen besser geworden. Ich kann wieder gehen und habe wieder Freude an der Bewegung.

Wie hat die Diagnose MS Deinen Alltag verändert?

Grundlegend! Vom ersten Tag an und dann bestimmt für 1,5 Jahre drehte sich alles nur um die Krankheit. Ich habe an nichts anderes gedacht und auch alles – jedes Gefühl, jede Beschwerde – damit begründet.

Es hat mein Berufsleben auf den Kopf gestellt und schließlich beendet. Ich habe in dem Jahr einen Rentenantrag gestellt und meine erste Reha absolviert. Das hat natürlich auch finanzielle Auswirkungen gehabt, die massiv auf meine Stimmung geschlagen sind. Dieser Verlust der Selbstbestimmtheit, gesundheitlich, aber auch finanziell – das geht an die Substanz und raubt Lebensenergie. Außerdem schämt man sich so unglaublich dafür. Ich verstehe, dass viele darüber nicht sprechen möchten, aber das gehört eben auch dazu.

Das war eine echte Zerreißprobe für meine Beziehung und hätte fast zur Trennung geführt. Mein Mann hat aber immer zu mir gehalten, auch wenn es für ihn sehr belastend war – auch immer wieder ist. Es hat lange gedauert, bis ich mich an meine Lebenssituation gewöhnt hatte und gelernt habe, damit umzugehen. Diese Lebensjahre bekomme ich nicht zurück, aber ich habe mich entschieden, mich auf den Weg zu machen. Egal, welche Hindernisse noch kommen werden.

Welche Strategien hast Du fĂĽr Dich gefunden, den Alltag mit MS zu erleichtern?

Ich achte auf eine gesunde Balance aus Bewegung, ausgewogener Ernährung und psychischer Gesundheit.

Es fängt mit der Therapie an, die einfach passen muss. Es hat eine Weile gedauert, aber inzwischen habe ich einen Arzt gefunden, dem ich sehr vertraue. Ich habe Physiotherapie für neurologische Patienten bekommen, eine Schmerztherapie und Krankengymnastik an Geräten.

Bewegung sehe ich als gesunden Motor – für gesunde und für chronisch kranke Menschen. Ich zwinge mich trotz Einschränkungen dazu, regelmäßig Krafttraining zu machen. Ich gewinne dadurch nicht nur Kraft, ich habe auch das Gefühl, nicht in Stillstand zu geraten. Stillstand bedeutet, die Krankheit kann sich ausbreiten, Dich weiter verletzen und von innen heraus zerstören. Ich will dem etwas aktiv entgegensetzen. Außerdem habe ich meine Ernährung umgestellt. Ich esse ausgewogener, verzichte auf Schweinefleisch und probiere viele neue Rezepte aus.

Um besser damit umgehen zu können, personifiziere ich meine MS. Ich sehe sie als Ungeheuer, meine Nemesis. Sie nutzt meine Schwächen aus und versucht, mich runterzuziehen. Aber ich kann sie bezwingen. Ich spreche sie direkt an, bringe meine Wut zum Ausdruck. Und auf diese Weise mache ich sie ein bisschen kleiner. Ich verweise sie auf den Platz, den sie einnimmt. Den hat sie nun einmal und bestimmte Dinge kann ich nicht kontrollieren. Aber mehr soll sie von mir nicht bekommen!

Gab es einen Menschen, der Dich besonders inspiriert oder motiviert hat?

Da gibt es zwei Menschen. An allererster Stelle ist da mein Ehemann. Seit 2018 sind wir verheiratet. Er gibt mir Sicherheit und das Gefühl, dass da jemand ist, der mich immer auffangen wird. Einen schöneren Liebesbeweis gibt es für mich nicht. Dass er trotz allem bei mir geblieben ist, hat mir den Impuls gegeben, meine Einstellung zu mir selbst grundlegend zu ändern und aktiver zu werden.

Der zweite Mensch ist meine Mutter. Auch wenn sie nicht mehr bei mir ist, inspiriert sie mich bis heute durch ihren unglaublichen Kampfgeist. Sie hat nie aufgegeben, auch wenn sie es sehr schwer hatte. Auch sie war schwer depressiv, wovon ich in meinem jungen Erwachsenenalter sehr viel mitbekommen habe. Es gab deswegen zwischenzeitlich starke Spannungen zwischen uns, aber unser Verhältnis war sehr eng.

Sie war trotz allem ein positiver, kommunikativer und humorvoller Mensch. Auf ihrer Beerdigung habe ich ihr geschworen, dass ich niemals aufgeben will, genau wie sie. Und ich habe mich daran gehalten. Das fühlte sich zwar in der schweren Phase nicht so an, aber heute weiß ich, dass ich mein Leben nie weggeworfen habe. Ich war nur lange auf Stand-by. Jetzt habe ich wieder Antrieb, auch ausgelöst dadurch, dass ich oft an sie denke. Dieses Vermächtnis von ihr nehme ich mit. Ich nutze diese positive Energie, um anderen Menschen, die in einer ähnlichen Situation sind, weiterzuhelfen.

Welche persönliche Empfehlung möchtest Du anderen Betroffenen für den Umgang mit MS geben?

Das allerwichtigste ist die Akzeptanz, dass man den Rest seines Lebens krank sein wird und es sich womöglich schleichend verschlechtern wird. Das ist ein Schock und manchmal fühlt man sich, als würde man das nie schaffen können. Aber wenn man wieder ans Leben anknüpfen will, muss man da durch.

Dann sollte man einen Arzt suchen, dem man vertraut und die passende Therapie finden. Das kann dauern, und es kann Rückschläge geben. Dann immer sagen: Weitermachen! Weitersuchen! Irgendwann passt es! Du tust es für Dich!

Eigenmotivation ist wichtig, um sich aktiv der Erkrankung entgegenzustellen und sich ein Stück von der Lebensqualität zurückzuerobern, die sie genommen hat. Dabei muss man auch Mut beweisen. Bildlich gesprochen stand ich an einem Scheideweg. Ich wollte oft genug einfach alles hinschmeißen, habe einen Abgrund vor mir gesehen, in den ich fast gestürzt wäre. Aber es gab eben auch den anderen Weg: Der war zwar voller Steine und Hindernisse. Aber ich wusste auch, wenn ich den Mut habe, die zu überwinden, werde ich weiterkommen – wohin auch immer. Ich habe mich für den zweiten Weg entschieden.

Vielen Dank für das Gespräch!

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DE-NONNI-00389, (01/2023)