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Wann hast Du die ersten MS-Symptome bemerkt?
Das erste Mal, dass ich bewusst wahrgenommen habe, dass etwas nicht stimmt, war 2007, während meiner kirchlichen Hochzeit. Ich musste mich hinknien und habe plötzlich gespürt, dass ich keine Kraft in den Beinen habe, um mich zu halten. Das verging aber wieder. Ein halbes Jahr später hatte ich ein komisches Gefühl in den Beinen. Ein Kribbeln wie ein „Ameisen Flitzen“ und ein Kältegefühl. Ich habe mir dann mit der Hilfe von Dr. Google die Selbstdiagnose gestellt, dass es eine Durchblutungsstörung durch das Rauchen sein muss – ich habe zu dem Zeitpunkt sehr viel geraucht. Deshalb habe ich von heute auf morgen aufgehört. Als mein heutiger Ex-Mann und ich einige Zeit später beim Squash-Spielen waren, sind mir regelrecht die Beine weggesackt, sodass ich mit dem Kopf gegen eine Glasscheibe geknallt bin. Daraufhin bin ich endlich zum Arzt gegangen und dann schließlich zum Neurologen. Dann stand der Verdacht im Raum, dass es Multiple Sklerose sein könnte. Man sagte mir, dass noch einige Puzzleteile zusammengefügt werden müssen und weitere Untersuchungen nötig sind.
Wie kam es dann zur endgĂĽltigen Diagnose Multiple Sklerose?
Ich war wie benommen und bin erst einmal zur Arbeit gefahren. Außerdem habe ich meine Mutter angerufen. Ich hatte ganz plötzlich ein unheimlich starkes Verlangen nach einer Zigarette. Ich bin standhaft geblieben, weil mir sofort klar war, dass eine Zigarette die Nachricht nicht besser macht, die ich gerade bekommen habe. Aber ich wollte irgendetwas, woran ich mich festhalten kann und das mir Halt gibt. Leider war es aber so, dass ich vielmehr in der Rolle war, meinem Umfeld Halt geben zu müssen. Meine Mutter war sehr geschockt von der Nachricht. Die musste ich erst einmal beruhigen und aufbauen. Dabei hätte ich es gebraucht, dass mich jemand auffängt. Wortwörtlich, denn zu Hause sind mir wieder die Beine weggesackt. Daraufhin bin ich ins Krankenhaus gekommen, es wurden alle notwendigen Untersuchungen gemacht und dann stand es fest: Ich habe Multiple Sklerose. Ich war so geschockt. Meine größte Angst war, dass ich nun meinen Kinderwunsch nicht erfüllen kann. Aber die Ärzte haben mich beruhigt und sind sehr gut auf mich und diesen Wunsch eingegangen. Mir wurde gesagt, ich könne auf jeden Fall noch Kinder bekommen. Optional hätte ich mit der Therapie bis nach einer eventuellen Schwangerschaft warten können. Allerdings hat sich eine Schwangerschaft zu diesem Zeitpunkt nicht ergeben.
Wie hat die Diagnose MS Deinen Alltag verändert?
Mir ging es zu der Zeit aus unterschiedlichen Gründen nicht gut. Meine Ehe ging langsam, aber sicher auseinander. Ich habe mich wie in Watte gepackt gefühlt, so als wäre ich die „kranke, behinderte Frau“. Das wollte ich aber nicht sein. Ich wollte mich lebendig fühlen. Meine Rettung war eine Reha im Jahr 2008, nachdem bei mir eine Sehnerventzündung festgestellt wurde. Dort habe ich viel nachgedacht und viele Gespräche geführt, mit einem Menschen, von dem ich mich sehr verstanden gefühlt habe. Ich wurde nicht mehr als die kranke Person gesehen, die vielleicht in einigen Jahren im Rollstuhl sitzt, sondern einfach als Steffi. Daraus ist auch eine kurze Beziehung entstanden, weil wir uns einfach gutgetan haben. Bis heute haben wir einen freundschaftlichen Kontakt. Zu meinem Mann bin ich nach der Reha nicht mehr zurück, sondern bin direkt zu meinen Eltern gefahren. Kurz darauf habe ich die Scheidung eingereicht und mir eine Wohnung gesucht. Für mich war das ein Befreiungsschlag, was auch mein Umfeld bemerkt hat. Meine Eltern hatten ihre Tochter wieder, ich habe wieder gelacht, konnte Gefühle zulassen und war nicht mehr so erstarrt.
Mein Umfeld hat sich verändert. Ich habe meine beste Freundin verloren, aber durch die MS auch neue dazugewonnen. Mir ging es gut. Bis dann per Post der Rentenbescheid ins Haus kam und ich verrentet wurde. Das hatte ich nicht beantragt. Das muss aus der Reha aus veranlasst worden sein. Ich bin gelernte Pharmazeutisch-Technische Assistentin, habe aber unter anderem ein Fernstudium gemacht und die Kosmetikfachschule besucht. Ich wollte mich eigentlich beruflich neu orientieren und durchstarten, sobald ich mich erholt hatte. Nun fühlte ich mich wieder ausgebremst.
Welche Strategien hast Du fĂĽr Dich gefunden, diesen RĂĽckschlag zu verarbeiten und den Alltag mit MS zu erleichtern?
Ich versuche, so gut es geht, selbstständig zu bleiben. Nicht mehr arbeiten zu gehen, war keine Option für mich. Ich wollte nicht in diese Schublade gestopft werden. Ich habe also auf 400-Euro-Basis als Lehrbeauftragte im Qualitätscheck für Bäckereifilialen gearbeitet. Kurz darauf habe ich den Vater meiner heute zehnjährigen Tochter kennengelernt. Er wusste von Anfang an, worauf er sich mit mir als MS-Patientin einlässt, hat sich davon aber nicht abschrecken lassen.
Meine Hauptstrategie ist Hinschauen: Was kann ich noch und was kann ich nicht? Wo brauche ich Hilfe und wo nicht? Wenn ich etwas möchte, dann schaue ich, ob es die Möglichkeit gibt, dass ich es schaffen kann. Und wenn ich die sehe, dann mache ich das auch. Oder ich suche mir Hilfe, wenn es sein muss. Ich kann es aber nicht aushalten, wenn man mir Dinge nicht zutraut. Daran ist letztlich auch die Beziehung zum Vater meiner Tochter zerbrochen. Es gab mehrere Situationen, in denen ich mich wieder behandelt gefühlt habe, als könnte ich nicht mithalten. Dabei konnte ich oft genug zeigen, dass ich genauso viel mit meiner Tochter unternehmen kann wie andere Mütter – wenn nicht sogar mehr. Es war ein neuer Befreiungsschlag notwendig, um zu beweisen, dass ich nicht hilflos bin. Ich habe mit meiner Tochter zusammen eine Reha gemacht, um Kräfte zu sammeln und dann die Entscheidung getroffen, meine derzeitige Beziehung zu beenden. Obwohl wir heute kein Paar mehr sind, ist mein Expartner aber immer noch eine große Unterstützung für meine Tochter und mich. Bis heute ist er für mich ein ganz besonderer Mensch, der mich inspiriert.
MS ist die Erkrankung der 1.000 Gesichter. Welche weiteren Symptome zeigen sich bei Dir und wie geht es Dir heute?
Nach der Sehnerventzündung 2008 ging es mir eine ganze Weile wirklich gut. Schübe hatte ich keine. Aber als meine Tochter in den Kindergarten kam, ging es langsam los mit Koordinations- und Gleichgewichtsstörungen. Da bin ich dann auch das erste Mal gestürzt. Die Gefahr besteht leider öfter. Meine Beine sind inzwischen sehr in Mitleidenschaft gezogen und ich brauche manchmal einen Rollator oder einen Rollstuhl. Ich habe gelegentlich Ausfallerscheinungen in den Beinen und Armen und Spastiken. Ich kann dann zum Beispiel die Knie nicht anwinkeln oder den Fuß schlecht heben. Auch Fatigue kenne ich. Dann bin ich manchmal so müde, dass ich die Augen nicht aufhalten kann. Inzwischen habe ich Pflegegrad 3 und benötige Hilfe im Haushalt. Es ist mir schwergefallen, mir das einzugestehen und anzunehmen, aber das lasse ich inzwischen zu. Auch arbeiten kann ich heute nicht mehr.
Gab es ein Ereignis, das Dich besonders inspiriert oder motiviert hat?
Die schönste Zeit meines bisherigen Lebens war die Schwangerschaft mit meiner Tochter und schließlich ihre Geburt im Jahr 2011. Ich habe mir so sehr ein Kind gewünscht und es hätte mich nicht besser treffen können. Während der Schwangerschaft ging es mir super und auch die Geburt verlief problemlos. Dann hatte ich diese kleine Maus im Arm und war einfach nur glücklich, dass sie kerngesund war.
Seitdem gibt es immer wieder Ereignisse, die mit ihr in Verbindung stehen und die mir neue Kraft geben. Seit sie auf der Welt ist, gibt sie mir Energie, durch den Tag zu kommen und aktiv zu werden. Es gab morgens keine schlechte Laune mehr. Ich habe in ihr Babybett geschaut und ihre Wärme und Ausstrahlung hat mich einfach glücklich gemacht. Und immer, wenn ich etwas mit meiner Tochter unternehme, wie zum Beispiel ins Schwimmbad gehen, bin ich stolz, dass ich dies kann und dass sie mir zeigt, wie sehr sie sich darüber freut – egal ob ich länger brauche als andere oder für mich mühsamer ist. Dann wiederum gibt es Momente, da bleiben wir zwei einfach auf der Couch und auch das ist okay. Meine Tochter ist mein Motivator und mein Ruhepol.
Gibt es weitere Kraftquellen fĂĽr Dich?
Ich sage mir selbst, dass ich nicht dafür verantwortlich bin, wenn andere mit meiner Krankheit nicht umgehen können oder denken, ich könne nicht mithalten. Meine Eltern haben zum Beispiel allerhand Tipps für mich, was ich besser machen könnte, aber im Grunde sind sie immer noch sehr überfordert. Das kann ich aber nicht ändern, außer ihnen zu sagen, dass ich das schon auf meine Weise mache. Ich denke, ich kann gut auf mich achten und für meine Bedürfnisse sorgen. Ich hatte zum Beispiel den Herzenswunsch, mit meiner Tochter nach Lanzarote zu fliegen. Den habe ich uns erfüllt, indem ich mich über Hilfsangebote für Rollstuhlfahrer informiert und diese während der Reise in Anspruch genommen habe. Das hat alles reibungslos geklappt und ich kann es jedem Rollstuhlfahrer nur empfehlen, zu schauen, welche Möglichkeiten zum barrierefreien Reisen es gibt. Generell finde ich, dass sich Betroffene auch mal zusammenschließen könnten, um solche Reisen zu unternehmen. Man kann sich hier ja auch gegenseitig helfen. Das fehlt mir ein bisschen in den Sozialen Medien. Aber vielleicht ist bei vielen die Hemmschwelle zu hoch.
Welche persönliche Empfehlung möchtest Du anderen Betroffenen für den Umgang mit MS geben?
Hör nicht darauf, was andere Dir sagen oder empfehlen, wenn es Deinem Herzenswunsch widerspricht. Wenn Du einen Wunsch hast, und die Erfüllung möglich ist, dann geh diesem Wunsch nach. Habt nicht so viel Angst vor Veränderungen, denn sie können viel Positives in Dein Leben bringen. Ich habe so viele Veränderungen erlebt, mich oft gefragt, ob ich das packe, und die Antwort war jedes Mal: Ja! Wenn Du Dich also fragen solltest, ob Du das packst: Ja, tust Du! Auf Deine Weise! Wir sind unwahrscheinlich stark. „Unwahrscheinlich“, weil viele nicht damit rechnen, aber was wir aushalten können, ist enorm und erstaunlich!
Mir sind viele Stolpersteine in den Weg gelegt worden, die ich heute eher als Puzzleteile sehe. Das Leben und die Menschen, die ich getroffen habe, haben mir diese Puzzleteile in die Hand gegeben, aber ich habe sie zusammengefĂĽgt. Jetzt ist es erst einmal fertig. Ich bin jetzt mit meiner Tochter allein und ausgelastet. So soll es erst einmal bleiben, denn aktuell ist da nicht viel Platz fĂĽr mehr.
VIELEN DANK FÜR DAS GESPRÄCH!
DE-NONNI-00373 (01/2023)