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Dein Leben mit Multipler Sklerose begann schon einige Jahre vor der Diagnose. Was war damals bei Dir los?
2013 – während meines letzten Schuljahrs – war das, als ich zum ersten Mal eine ernsthafte Veränderung in mir gespürt habe. Ich war plötzlich sehr anfällig für Viren und Bakterien, hatte starke Kopfschmerzen und war wahnsinnig müde. All dieses und ich selbst sind mir ein Rätsel geworden und so konnte ich auch niemandem wirklich erklären, was eigentlich mit mir los war. Ich hatte gar keine Worte dafür, um das konkret benennen zu können. Einige Lehrer hatten ohnehin überhaupt kein Verständnis für mein plötzlich so zurückgezogenes Verhalten, ich war komplett verstummt und beteiligte mich kaum noch am Geschehen, war stille Beobachterin geworden. In der Familie gab es Disharmonien und es lastete zu dieser Zeit kurz vor dem Abitur zu viel Druck auf mir, als dass ich es mir hätte erlauben können, wegen Arztterminen zu fehlen. Niemals hätte ich das Versäumte damals aufholen können.
Deshalb ging ich erst zum Arzt, als ich das Abitur in der Tasche hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich schon ein milchiger Schleier über mein rechtes Auge gelegt. Ich konnte nur noch verschwommen sehen und so blieb mir nichts anderes übrig, als mich endlich untersuchen zu lassen. Nach einem MRT der Wirbelsäule und des Schädels und einer Lumbalpunktion kam dann zum ersten Mal dieser Verdacht auf, dass es sich um Multiple Sklerose handeln könnte.
Die Diagnose bekam ich allerdings erst drei Jahre später. Es handelte sich zunächst um ein einmaliges Schubereignis, das als „klinisch isoliertes Syndrom“ deklariert wurde. In der Klinik wurde mir umgehend eine Kortison-Stoßtherapie verpasst, womit die Sehnerventzündung besänftigt werden sollte. Nach der hochdosierten Kortisongabe kam mein Augenlicht recht schnell zurück, die respektlose Art mancher Ärzte bzw. das, was sie zu mir sagten, ging mir allerdings ziemlich an die Nieren. Ich fühlte mich eingesperrt und ich wollte nur noch raus aus dieser Klinik, deswegen entließ ich mich nach einer Woche schließlich selbst.
Einige Monate ging es mir sehr schlecht, ich hatte Schmerzen und konnte kaum aufstehen, die Müdigkeit fesselte mich ans Bett – klarer Fall von Fatigue, wie ich heute weiß. Meinen Eltern bin ich sehr dankbar, dass sie in dieser Zeit so liebevoll für mich da waren. Außerdem war ich mit wundervollen Freunden gesegnet, die auch nach unzähligen Absagen nicht aufhörten nach mir zu fragen
Wie verlief Dein weiterer Weg bis zur Diagnose Multiple Sklerose?
Eine niedergelassene Neurologin drängte mir kurz nach meinem Klinikaufenthalt eine Therapie auf, mit der ich nicht einverstanden war. Damals war das alles allerdings noch gar nicht so leicht wie heute – es gab noch nicht so viele Möglichkeiten, sich auszutauschen. Aber was ich im Internet darüber gelesen habe, hat mich abgeschreckt, deshalb habe ich mich gegen eine medikamentöse Behandlung entschieden. Als ich danach wieder einigermaßen zu Kräften gekommen war, zog ich recht schnell von meinem kleinen Winzer-Dörfchen in der Pfalz, wo ich aufgewachsen war, nach Bamberg, eine märchenhafte Stadt in Oberfranken. Dort studierte ich Germanistik, Kunstgeschichte und Soziologie. Endlich – denn alle meine Freunde waren längst über alle Berge, um ihren Weg zu machen. Das wollte ich auch!
Hier wollte ich mich vor allem wieder selbst spüren. Die Entdeckung des Laufens war für mich ein regelrechter Wendepunkt. Zunächst war es zugegebenermaßen ein Davonlaufen, dann eine Art innerer Kampf, den ich insgeheim und für niemanden sichtbar Tag für Tag gegen die MS führte. Täglich lief ich über 10 Kilometer, manchmal ging ich danach noch zwei Stunden schwimmen. Das exzessive Laufen stellte für mich eine neue Quelle der Lebensenergie dar. Ich stellte meine Ernährung um, lebte ketogen, lief immer weitere Strecken, immer schneller – und ich wurde immer stärker, bald stand schon der erste Halbmarathon auf dem Programm.
Das Studium und die vielen universitären Veranstaltungen bildeten eine perfekte Rahmung für meine extreme Alltagsstruktur. Als Ausgleich hatte ich die Kunst. Oft verlor ich mich in Büchern, zeichnete viel, schrieb und veröffentlichte Gedichte, und fand in nahezu jedem Winkel neue Inspiration. Bald verliebte ich mich, wollte mein Leben richtig auskosten, reiste in verschiedene Städte, erlebte jede Menge durchzechte Nächte in verrauchten Kneipen, viele magische Konzerte und unvergessliche Begegnungen. Zwischen all diesen Entwicklungen wollte ich es Ende April 2016 nun aber doch wissen: Freiwillig begab ich mich in die Klinik. Nochmal MRT, nochmal Lumbalpunktion und dann stand sie, die Diagnose Multiple Sklerose. Kurz darauf erwischte mich dann ein zweiter Schub. Mein Kiefer war taub, ich schmeckte nichts mehr. Wieder Kortison, hochdosiert. Trotz der Behandlung veranstaltete ich zusammen mit meinem Freund ein dreitägiges Festival auf meiner Dachterrasse im Herzen der Bamberger Altstadt. Es war ein rauschendes Fest, befreundete Bands spielten und DJs legten auf – es war der Himmel auf Erden!
Ich war sowohl körperlich als auch geistig komplett auf Ablenkung aus, war immer in Bewegung, es sollte keine Zeit für trübe Gedanken und für Sorgen bezüglich der MS übrigbleiben. Ich stand dem Leben euphorisch gegenüber. Irgendwann legte sich dieses Gefühl allerdings. Das war ernüchternd, aber nötig, um mich mit der Krankheit und mit mir selbst auseinanderzusetzen. Es war der Freiraum, den ich gebraucht habe, um die MS akzeptieren zu lernen und langsam zu verstehen, dass es nicht der richtige Weg war, sich nur widerspenstig aufzulehnen und ständig mit aller Kraft gegen sie zu kämpfen.
MS ist die Krankheit der 1000 Gesichter. Wie zeigt sie sich bei Dir und wie geht es Dir damit?
Nach der Diagnosestellung hatte ich recht selten akute Schübe. Die, die ich hatte, äußerten sich vor allem in Form von Taubheitsgefühlen meiner rechten Körperhälfte. Jede Berührung schmerzte, Kälte fühlte sich wie Feuer an, sogar das Tragen von Kleidung war zeitweise eine Qual. Die MRT-Bilder sahen zudem nicht besonders erfreulich aus und so ließ ich mich zu einer Therapieform überreden, die ich heute so nicht mehr machen würde.
Von Seiten der Ärzte hörte ich Sätze wie „Beim nächsten Schub können Sie nicht mehr laufen“ usw. Damals litt ich ebenfalls phasenweise sehr an einer starken Fatigue-Symptomatik, die mich teilweise nur zwei bis drei Stunden täglich aktiv am Leben teilnehmen ließ. Meistens war das aber nachts, was meinen Alltag auf den Kopf stellte. Heute bin ich relativ frei von dieser lähmenden Müdigkeit, ja meistens habe ich sogar eine Art „Anti-Fatigue“, wie ein Freund von mir, der ebenfalls an MS erkrankt ist, meine manchmal hochaktive Lebensweise einmal betitelte. Immer mal wieder, besonders aber in Stresssituationen, blitzen jedoch beängstigende Symptome wie beispielsweise Nervenschmerzen, Missempfindungen, Taubheit, verschwommenes Sehen, Schwindel, Kopfschmerzen, Tinnitus, Hörsturz und diese extreme Müdigkeit auf.
Natürlich dominiert da manchmal das Gefühl, hilflos gegen all das zu sein. In solchen Situationen versuche ich, mich zu einer Ruhephase zu zwingen. Wenig später legen sich die Symptome meistens wieder. „Was ohne Ruhepausen geschieht, ist nicht von Dauer“ – dass der römische Dichter Ovid mit diesem Zitat recht behalten sollte, musste ich schon oft am eigenen Leib erfahren. Es ist ein unsicheres Leben, wenn man in jedem Augenblick mit einer ganzen Facette an körperlichen Störfaktoren rechnen muss und dann auch noch damit umgehen soll.
Mittlerweile habe ich ein starkes Vertrauen in meine Selbstheilungskräfte aufgebaut und verzichte weitestgehend auf Medikamente und Kortison. Auch zum Arzt gehe ich eher selten, da ich oft an Neurologen geraten bin, die meiner Meinung nach Schwarzmalerei betreiben und nicht auf meine Fragen oder Anliegen eingingen. Ich vermisste die ganzheitliche Betrachtungsweise und deswegen ist diese Rolle leider noch vakant. Deshalb ist es wichtig geworden, in mich hineinzuspüren, mir selbst Ruhe zu verordnen, auf ausreichend Entspannung in der Natur zu achten. Manchmal hilft es aber auch, sich in ein Abenteuer zu stürzen, denn auch daraus ziehe ich oft neue Energie.
Wie hat die MS Deinen Alltag verändert?
Zuerst habe ich niemandem von der Diagnose erzählt, habe auftretende Symptome und damit einhergehende Arzttermine mit keinem Wort erwähnt, weil ich nicht wollte, dass sich jemand Sorgen um mich macht. Lange habe ich das sehr gut allein regeln können. Irgendwann, als ich mich sicherer damit fühlte, öffnete ich mich meiner Familie und meinen Freunden.
Bald schon machte ich keinerlei Geheimnis mehr daraus und verspürte sogar den Wunsch, meine Mitmenschen über diese verrückte und heimtückische Krankheit zu informieren, damit das allgemeine Bewusstsein in der Gesellschaft auch für komplexe und eher tabuisierte Themen sensibilisiert wird. Das tat ich beispielsweise durch Sportbotschaften, meine Online-Präsenz und kleine persönliche Aktionen am Welt-MS-Tag. In Mainz, wo ich aktuell lebe und Komparatistik und Kunstgeschichte studiere, setzte ich mein Projekt „1000 Gesichter – 1000 Gedichte“ in die Tat um. Zusammen mit ein paar Freunden hängte ich in der Nacht zuvor überall bunte Papiere, bedruckt mit einem meiner Gedichte, welches die Krankheit zu beschreiben versucht, und einem kleinen Text, der über MS-Awareness aufklären sollte, in der ganzen Stadt auf. An Bäumen, an Litfaßsäulen, an Wänden, gut sichtbar an wichtigen Plätzen, in fast jeder Ecke hing so ein Zettel. Es war sehr berührend, wie die Leute darauf reagierten. Mit so viel positiven Reaktionen und so hohem Interesse hatte ich nicht im Traum gerechnet. Ich wollte dadurch mit Klischees brechen, wie etwa dem, dass Erkrankte früher oder später sowieso im Rollstuhl landen, denn dazu muss es nicht unbedingt kommen.
Vor allem für Neuerkrankte können solche Pauschalaussagen in einer persönlichen Tragödie enden. Es kann einen auf ganz andere Weise dahinraffen oder aber man ist von Glück gesegnet, völlig symptomfrei bis ins hohe Alter durchs Leben zu kommen. Alles kann der Fall sein und niemand kann mit Sicherheit die Zukunft voraussagen. Wichtig für Menschen, die frisch diagnostiziert sind, ist es meiner Meinung nach, zu begreifen, dass auch in Gesunden etwas schlummern kann, dass auch ihnen alles Mögliche zustoßen kann und die Diagnose MS nicht automatisch bedeutet, dass es plötzlich nur noch bergab gehen wird.
Ich rate auch dazu, sich Zeit zu lassen. In Ruhe zu entscheiden, ob man sofort zu einem Medikament greifen will oder ob es vielleicht schon hilfreich sein kann, sein Leben etwas zu ändern. Meiner Erfahrung nach kann man seine Gesamtsituation damit sehr verbessern und sich auch selbst besser kennenlernen, wenn man sich einmal ernsthaft die Frage stellt, was nicht so gut passt, was man an Ballast loswerden will. Natürlich, man muss lernen, mit einem erhöhten Risiko umzugehen, dass man sich in Nullkommanichts in einer mehr oder minder schweren Katastrophe wiederfinden kann. Man sollte dabei aber auf keinen Fall vergessen, dass es auch schnell wieder bergauf gehen kann.
Es öffnen sich neue Türen, Ideen tun sich auf, neue Wege, die man vorher niemals in Erwägung gezogen hätte. Das Leben ist nicht planbar... das müssen wir lernen. Manchmal weiß ich gar nicht, wohin mit all der Energie und einen Tag später nimmt die Misere ihren Lauf – das ist nicht so einfach zu verstehen, für beide Seiten nicht...
Welche Strategien hast Du fĂĽr Dich gefunden, Dir den Alltag mit MS zu erleichtern?
In meinem Alltag mit der MS muss ich spontan anders agieren, als es womöglich angedacht war, was mir manchmal sehr schwerfällt. Besonders trifft mich das, wenn ich etwas Tolles vorhabe, das sich nicht so einfach nachholen lässt oder hart erarbeitete Ziele erst einmal im Sand verlaufen, weil ich plötzlich eine Pause einlegen muss. Es ist immer noch ein Drama für mich, wenn ich akzeptieren muss, dass etwas doch nicht so funktioniert, wie ich mir das schon ausgemalt habe.
Andererseits schätze ich Phasen und Momente, in denen alles ohne Zwischenfälle abläuft, höchstwahrscheinlich viel mehr, als gesunde Menschen dies tun. Jeder unbeschwerte Augenblick erscheint mir so viel wertvoller als vor der Diagnose. Die Kunst im Umgang mit der eigenen MS liegt für mich darin, sich die Fähigkeit anzueignen, spontan umdenken zu können, flexibel und kreativ zu sein. Die eignen Träume und Ziele nicht einfach zu verwerfen oder gar aus den Augen zu verlieren, sondern stets bereit und mutig genug zu sein, die Richtung zu wechseln. Dabei andere Wege zu gehen, manchmal beschwerliche Umwege, verwirrende Holzwege und/oder diffuse Fluchtwege. Wie schon erwähnt, muss ich wohl oder übel lernen, mit plötzlichen Planänderungen umzugehen und einen langen Atem zu bewahren. Es ist natürlich ratsam, sich nicht allzu viel vorzunehmen. Die Messlatte manchmal etwas niedriger anzusetzen, vielleicht einmal weniger die absolute Perfektion anzustreben und an der richtigen Stelle einzusehen, dass man besser pausieren sollte, bevor der Körper einem seine eigenen Grenzen in Form von Symptomen oder Schüben aufzeigen wird. Daran arbeite ich jeden Tag aufs Neue.
Es fällt mir nicht gerade leicht, da ich von Natur aus eher kein spontaner und einsichtiger Charakter bin. Sport als Ventil hilft mir sehr, Spaziergänge durch die Weinberge oder am Wasser entlang, Zeit in der Natur oder mit Tieren zu verbringen, macht mich besonders in schwierigen Lebenssituationen oft wieder zu einem glücklicheren Menschen. Achtsamkeit, Meditation und Yoga haben seit einiger Zeit ebenfalls Einzug in mein Leben gehalten. Literatur und Kunst sind weiterhin bedeutungsvolle Energiequellen
Gibt es weitere Kraftquellen fĂĽr Dich?
Jede neue Idee, jede neue Erfahrung, ist im Grunde eine Kraftquelle für mich. Meistens wachsen schon aus kleinen Dingen irgendwelche Verrücktheiten, Träumereien oder waghalsige Pläne. Ein bisschen gibt mir das Risiko dabei den Kick und ich fühle mich von Extremen magisch angezogen, denn wenn es dann tatsächlich klappen sollte, dann ist es das höchste Glücksgefühl für mich. Und dafür gehe ich diese Risiken und Nebenwirkungen gerne ein – auch, wenn ich ehrlich zugeben muss, dass ich dabei manchmal nicht besonders vernünftig handle.
Gab es ein Ereignis, das Dich besonders inspiriert hat oder motiviert hat?
Es sind generell diese typischen „Steh-auf!-Menschen“, die mich faszinieren, inspirieren und motivieren. Wenn man genau hinschaut, gibt es unglaublich viele von ihnen. Es sind die Kämpfer, die Visionäre, die Eigensinnigen, die immer wieder Hoffnung und in jeder scheinbar komplett verfahrenen Situation trotzdem immer einen Funken Positivität finden. Menschen, die trotz aller Hindernisse weitermachen und sich durch die Meinungen anderer nicht entmutigen lassen. Exzentriker, die an ihre Träume glauben und so wandelbar sind, dass sie auch neue, steinige, vielleicht auch gefährliche Routen einschlagen, um an ihr Ziel zu kommen.
Ein besonderes Ereignis in meinem Leben war in dieser Hinsicht meine Entscheidung, ein Auslandssemester in Griechenland zu machen und dort den Marathon in Athen zu laufen. Die Startvoraussetzungen hätten damals schlechter nicht sein können. Fast jeder riet mir von meinem Vorhaben ab und ja, es war auch der Wahnsinn, was ich da vorhatte. Ich fuhr damals mit Fieber über sieben Stunden allein von Thessaloniki nach Athen und lief zum ersten Mal die gesamte Strecke mit Erkältung und MS. Vor dem Start dachte ich, dass ich nicht einen Kilometer schaffen würde. Aber dann lief ich einfach weiter. Und weiter. Und weiter. Es fühlte sich so perfekt an! Das funktionierte aber wohl nur, weil ich in dieser Extremsituation endlich eine Begegnung zwischen Körper und Geist zulassen konnte.
Nur der Wille allein hätte mir rein gar nichts gebracht. Immer wieder habe ich auf der Strecke intensiv in mich hineingespürt und auf meine innere Stimme gehört. Wortwörtlich habe ich mich laufend vergewissert, ob es für meinen Körper gerade in Ordnung ist, was hier passiert. Es war ein ständiger Austausch mit mir selbst, mit der Umgebung, den Menschen um mich herum, mit jedem Schritt fühlte sich die Sache heiliger an. Körper und Geist gingen Hand in Hand. Der Flow erledigte den Rest. Dieser Zustand war das höchste Glücksgefühl, das ich je hatte! Als ich das Olympiastadion und damit das Ziel erreicht hatte, war für mich eines klar: Man kann tatsächlich alles schaffen, wenn man Vertrauen in sich selbst hat, wenn man gewillt ist, mutig zu sein, geduldig zu sein, Risiko einzugehen, die richtige Perspektive und den passenden Weg für sich zu finden.
Welcher Weg ist das und was wĂĽrdest du anderen Betroffenen fĂĽr den Umgang mit MS empfehlen?
Ich glaube, es ist unumgänglich, dass man sich bewusst darüber wird, dass jeder seinen eigenen Weg vor sich hat. Dass es nicht damit getan ist, das zu tun, was der Arzt, ein ebenfalls Erkrankter, ein Freund oder sonst wer sagt. So individuell wie sich die MS bei jedem zeigt, so muss jeder seine eigenen Strategien für sich entwickeln. Es ist wundervoll, dass es heute die unzähligen Möglichkeiten gibt, gegenseitig im Austausch zu stehen, Erfahrungen zu teilen, Ratschläge einzuholen, sich verstanden zu fühlen, Trost zu bekommen und zu spenden, sich gegenseitig Mut zu machen und Motivation zu geben. Die MS ist es ja, die uns miteinander verbindet, aber gleichzeitig ist auch sie es, die uns voneinander trennen kann. Sie ist ein Indikator unserer Einzigartigkeit. Sie bringt uns an den tiefsten Tiefpunkt, sie kann gleichfalls aber auch Raum für neue Blickwinkel und Herausforderungen schaffen. Die MS fordert jede und jeden von uns auf, sich ernsthaft mit uns selbst als Individuum auseinanderzusetzen, zu begreifen, wer wir wirklich sein wollen und was wir eigentlich vom Leben wollen. Es liegt an uns, zu realisieren, dass diese Krankheit nicht unser Feind sein muss, sondern ein Teil von uns sein kann, der uns daran erinnert, dass wir keine Automaten sind, die in jeder Sekunde und unter jeder Bedingung funktionieren müssen. Sie zeigt uns auf, wenn etwas vielleicht nicht so gut zu uns passt, wenn wir uns zu viel oder das Falsche zumuten.
Wir können sie weder auf lange Sicht ignorieren, noch verdrängen, wir werden sie nicht einfach so los. Wir müssen einen gemeinsamen Weg mit ihr finden. Wo der hinführt, ist ungewiss. Wie schrecklich steinig oder wie abenteuerlich schön der wird, kann niemand sagen. Wir können entweder daran verzweifeln und aufgeben oder wir richten uns immer wieder auf und blicken mutig der Zukunft entgegen und wagen einen Schritt nach dem anderen. Die Möglichkeit besteht, dass diese Reise die Erfahrung unseres Lebens werden könnte. Im Guten wie im Schlechten. Es ist ein offenes Ende und das wiederum bedeutet, dass es spannend bleibt. Deswegen packte ich auch dieses Jahr trotz der schwierigen Corona-Zeit meinen Koffer, lief zum zweiten Mal den Marathon in Athen und bin sehr gespannt auf alles, was noch kommt!
VIELEN DANK FÜR DAS GESPRÄCH!
DE-NONNI-00374, (01/2023)