Wann wurde bei Dir die Diagnose Multiple Sklerose gestellt, und aufgrund welcher Beschwerden wurdest Du untersucht?

Ich habe die Diagnose am 1. Juli 2021 bekommen. Einen Tag vorher hatte ich massiven Drehschwindel, sodass ich den ganzen Tag Angst hatte, gleich umzufallen. Ich bin aber trotzdem zur Arbeit gefahren. Ich arbeite in der Buchhaltung einer Spedition. Am Tag darauf bin ich nach dem Aufstehen auf der Treppe gestürzt – und zwar so, dass ich mich nicht auffangen und festhalten konnte und die Hälfte der Stufen heruntergefallen bin. Weil es schon öfter vorgekommen war, dass ich mit Rechtsdrang gelaufen bin – auch ständig gegen Wände – hat mein Mann mich gefragt, ob es sein kann, dass ich nicht richtig sehe. Ich habe abgewunken und Ausreden gefunden, da ich zur Arbeit fahren wollte: zu wenig gegessen, zu wenig getrunken, es ist halt Sommer, da passiert Schwindel nun einmal. Ich hatte Gründe parat, wenn es mir nicht gut ging. Das war im Nachhinein betrachtet schon immer so.

Mein Mann hat aber darauf bestanden, dass wir ins Krankenhaus fahren. Ich bin ihm so dankbar dafür, denn ich wäre sonst zur Arbeit gefahren. Schon auf der Hinfahrt zum Krankenhaus habe ich massiv abgebaut. Es ist ein gruseliger Gedanke, dass mir das passiert wäre, wenn ich allein im Auto gesessen hätte.

Was genau ist auf der Hinfahrt zur Klinik passiert?

Ich habe beim Sprechen angefangen, massiv zu lallen – wie sturzbetrunken. Ich wollte sagen, dass ich dringend auf die Toilette muss. Aber es kamen keine Worte, nur ein Drucksen und Lallen. Ein furchtbares Gefühl, weil ich bei vollem Bewusstsein war, aber nicht in der Lage, mich auszudrücken. Mein Mann musste mich in die Notaufnahme tragen, weil ich auch nicht mehr laufen konnte. Dort dachte man direkt an einen Schlaganfall.

Es war aber eine Neurologin anwesend, die eine andere Vermutung hatte. Sie hat mich an Armen und Beinen auf Sensibilitätsstörungen untersucht, was ich auf der rechten Seite nicht gespürt habe. Daraufhin hat sie mir gesagt, sie habe, entgegen der anderen Meinungen, den Verdacht, ich könnte MS haben, und hat ein MRT veranlasst. Das Ergebnis war heftig: Ich muss schon mehrere Schübe gehabt haben, denn ich hatte drei ältere Läsionen im Kopf und zwei akute Herde. Einer liegt direkt am Hirnstamm und macht mir massive Probleme. Ich wurde stationär aufgenommen und habe hochdosiertes Cortison bekommen.

Wie war das fĂĽr Dich, nun Gewissheit zu haben, dass Du MS hast?

Im Nachhinein kamen mir Gedanken, ob sich die MS nicht schon vorher gezeigt hat. Ich erinnere mich an Situationen, in denen ich das Gefühl hatte, der Boden bewegt sich. Oder ich hatte einen schwarzen Balken im Sichtfeld. Das waren kurze Situationen, wie sie auch bei Stress und Erschöpfung auftreten können. Aber ich hatte zwischenzeitlich das Gefühl, ich werde verrückt.

Nun hatte ich Gewissheit, aber das war erstmal seltsam. Ich war fünf Tage im Krankenhaus und dann wurde mir gesagt, ich werde entlassen, kann wieder Autofahren und auch wieder arbeiten. So als wäre das nichts. Ich habe aber schnell gemerkt, dass das überhaupt nicht funktioniert, was die mir da nahegelegt haben. Zumindest nicht in meinem Fall. Die MS verläuft ja bei jedem anders.

Wenn man aber gesagt bekommt, dass alles so weiterlaufen kann wie bisher, das aber nicht dem eigenen Empfinden entspricht, fühlt man sich sehr hilflos. Ich habe dann sehr viel über Multiple Sklerose nachgelesen und mir die Informationen, die ich gern im Krankenhaus erhalten hätte, selbst gesucht. Der Start war also sehr holprig, aber inzwischen fühle ich mich gut informiert und habe ein gutes Bauchgefühl. Das gilt auch für die Behandlung. Ich habe das Angebot erhalten, an einer Studie teilzunehmen. Dabei werde ich sehr engmaschig betreut und fühle mich inzwischen ernst genommen.

MS ist die Erkrankung der 1.000 Gesichter. Welche weiteren Symptome zeigen sich bei Dir?

Ich habe Taubheitsgefühle in der Zunge. Das ist je nach Stressfaktor mehr oder weniger stark ausgeprägt. Der Geschmack von Essen und Getränken geht dabei verloren. Es fällt mir dann auch schwer, zu sprechen. Es fühlt sich an, als hätte meine Zunge kein Gewicht. Das belastet mich sehr, weil ich gerne telefoniere und sehr gerne mitteile.

Wenn ich sehr nervös bin, habe ich Störungen in Bewegungen und Empfindungen. Meine Hände zittern, ich kann nicht richtig greifen. Mir fällt dann auch mal etwas runter, zum Beispiel ein Flaschendeckel oder Kleingeld. Die Symptome nehmen im Laufe des Tages langsam zu. Es gibt aber auch Tage, an denen ich gar keine Beschwerden habe. Ich habe eine gute Intuition und kenne meinen Körper sehr gut. Ich weiß morgens nach dem Aufstehen ziemlich schnell, ob es ein guter Tag wird. Das nutze ich dann auch und bin an diesen Tagen aktiver als an anderen.

Wie hat die Diagnose MS Deinen Alltag verändert?

In den ersten Wochen habe ich sehr viel geweint, weil die Hilflosigkeit so stark war. Dabei kenne ich Rückschläge: Meine Tochter ist 2013 an Krebs erkrankt. Wir haben das überstanden und ich halte meine Familie und mich für grundsätzlich gefestigt im Leben. Uns kann nicht viel erschüttern.

Aber nach der Diagnose hatte ich große Angst: um meine Familie, um mich. Und das musste ich dann auch mal loswerden. Ich habe noch am selben Tag ein Video aufgenommen und auf Instagram hochgeladen. Ich konnte kaum reden, aber ich musste erzählen, dass ich MS habe, und es kaum glauben kann. Dieses Gefühl „Vorgestern war die Welt noch völlig in Ordnung und jetzt sitze ich hier“ musste ich teilen. Aber das war das Beste, was ich habe machen können. Sowohl vom Gefühl des Erleichtert Sein als auch von den Reaktionen, die ich bekommen habe. Jeder geht anders mit der Schocknachricht um, und ich bin jemand, der darüber reden muss, sonst frisst mich dieses Thema auf.

Welche Strategien hast Du fĂĽr Dich gefunden, Deinen Alltag mit MS zu erleichtern?

Darüber zu reden und aktiv Hilfe zu suchen! Die Gespräche mit einer Psychologin haben mir sehr geholfen. So habe ich die Kraft gefunden, eine ambulante Reha zu machen. Als ich so schlecht laufen und sprechen konnte, hatte ich Angst, das wird der neue Ist-Zustand für mich. Das konnte ich so nicht akzeptieren, habe immer wieder das Gespräch mit den Ärzten gesucht und um Hilfe gebeten. Ich kam wieder ins Klinikum, und da wurde es dann auch wirklich schlagartig von Tag zu Tag besser.

Was mir das Leben eher schwermacht, ist, wenn Leute mir sagen, dass man mir die MS ja nicht ansieht. Wenn man mich beispielsweise auf der Straße sieht und ich nicht renne, fällt meine Gehstörung nicht auf. Wenn mir dann beim Einkaufen das Geld aus der Hand fällt, kommt das für viele Leute völlig überraschend. Ich fühle mich dann manchmal beobachtet, so als würden die Leute denken, ich sei nicht mehr ganz dicht. Ein „Du siehst so normal aus“ ist kein Kompliment! Es ist fast eine Beleidigung für mich. Denn auf mich wirkt es so, als hätte ich deshalb keine Berechtigung, um Hilfe zu bitten. Die brauche ich aber manchmal. Oder zumindest Verständnis. Fragt mich ruhig, was mit mir los ist. Oder kommentiert es einfach gar nicht.

Gibt es weitere Kraftquellen fĂĽr Dich?

Ich denke, jeder muss seine Quelle finden, bei der er Ruhe finden und auch Kraft tanken kann. Für mich sind das Achtsamkeit und die Entspannungstechnik Qigong. Ich habe mich da sehr schwergetan, weil ich eigentlich der Typ „Gummiball“ bin. Mir ging es immer erst dann richtig gut, wenn ich ausgepowert war. Ich bin gerne joggen gegangen und habe das bis zur totalen Erschöpfung ausgereizt. Das war für mich immer ein sehr angenehmes Gefühl, weil ich dann wusste, ich habe alles gegeben. Sport ist heute noch, jetzt allerdings über die Reha, ein großer Teil meines Lebens und ein Entspannungsfaktor. Nur bis zur totalen Erschöpfung gehe ich nicht mehr.

Ich plane bewusst Pausen in meinen Alltag ein. Das ist mir sehr wichtig. Ich lasse mich da auch nicht aus der Ruhe bringen oder irgendwie stören. Mein Handy ist auch mal im Flugmodus, denn ich denke, dass zu viel Erreichbarkeit krank macht. Mittlerweile entscheide ich bewusst, wann ich erreichbar sein möchte und wann nicht. Ich fühle mich dadurch selbstbestimmt und nicht mehr fremdgesteuert.

In diesen Auszeiten liebe ich es, mit meinen Kindern und dem Hund spazieren zu gehen. Es ist mir auch egal, welches Wetter drauĂźen ist, man kann immer das Beste aus der Situation machen.

Gab es einen Menschen, der Dich besonders inspiriert oder motiviert hat?

Ja, ich habe da einen ganz besonderen Menschen gefunden: meine Qigong-Lehrerin. Ich kenne sie noch gar nicht lange, aber von Anfang an fand ich sie so angenehm und so warmherzig. In der ersten Qigong-Einheit hat sie immer wieder einen Satz gesagt, der mich bis heute prägt: „Alles kann sein, alles ist gut – Du bist so wie Du bist.“ Ich hatte das Gefühl, das spricht mich ganz persönlich an, obwohl noch andere Kursteilnehmer im Raum waren. Das hat mich wirklich berührt.

Generell inspirieren mich Menschen, die sich sowohl Stärke als auch Schwäche zu eigen machen können. Ich finde es sehr wichtig, dass man nichts vorspielt und so tut, als sei jeder Tag gleich toll und jede MS-Geschichte gleich. Ich bewundere Menschen, die zeigen, dass sie auch mal schlechte Tage haben, aber daran glauben, dass bald bessere kommen.

Welche persönliche Empfehlung möchtest Du anderen Betroffenen für den Umgang mit MS geben?

Ich gehöre zu den Menschen, die erst krank werden mussten, um sich darüber bewusst zu werden, was ihrem Leben einen Sinn gibt. Vor der Diagnose war ich ein anderer Mensch mit anderen Interessen und Zielen. Ich wollte immer dünner sein, immer schlanker, immer sportlicher. Irgendwie war mir nichts genug. Ich habe einen Perfektionismus gelebt, der anstrengend war. So habe ich in drei Jahren 113 Kilogramm Körpergewicht abgenommen, das war mein Hauptziel. Ich bin froh, dass ich das Gewicht verloren habe, denn es würde mein Leben mit MS sicher noch schwerer machen. Aber mein Fokus hat sich verändert und richtet sich mehr auf die kleinen Momente. Auf Ruhe und das, was schon vorher da war: meine positive Lebenseinstellung. Ich bin nicht religiös, bin aber der Überzeugung, dass Glaube und positives Denken der Schlüssel zur Zufriedenheit sein können – auch mit MS. Die Krankheit trifft uns alle hart an unterschiedlichen Zeitpunkten. Aber wir werden damit leben müssen. Geh raus! Lebe! Mach, was Du willst und kannst, damit es Dir gut geht. Das ist mein Anliegen.


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DE-NONNI-00375, (01/2023)

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